Buchkritik

Navid Kermani – Das Alphabet bis S

Stand
Autor/in
Alexander Wasner

In seinem neuen Roman „Das Alphabet bis S“ führt Navid Kermani Tagebuch aus einer seltsamen Perspektive – er schreibt sein Leben als Frau, Schriftstellerin und Orientalistin.

Eine namenlose Ich-Erzählerin, ihre Eltern stammen wie Navid Kermanis Eltern aus dem Iran, sie ist wie Navid Kermani bekannte Schriftstellerin von Romanen, Sachbüchern und Reden, sie durchlebt ein Jahr vieler Verluste: Der Mann trennt sich von ihr (eine Scheidung hat auch Kermani 2020 durchlebt), die Mutter stirbt, der Sohn hat einen Herzinfarkt. Davon weiß das Netz nichts und tiefer wollen wir nicht recherchieren.

Die Erzählerin, erfahren wir gleich zu Beginn, beschließt, ein Tagebuch zu führen.

Das Tagebuch ohne Datum, das ich mir vorgestellt habe, soll nicht um mich gehen, soll mich gar nicht erwähnen. Es soll ausschließlich notieren, was zwei Augen sehen, die zugegebenermaßen nun einmal meine eigenen sind, oder zwei Ohren hören.

Die Lebensumstellung hatte Folgen: Die Bücher müssen neu geordnet werden. Es ist endlich Platz da. Eine Mondfinsternis in der Mitte des Buchs lässt erahnen, dass es sich um das Jahr 2018 handelt, ansonsten sind aktuelle Bezüge weggelassen.

All die ungelesenen Bücher

Es kommt, einen Monat nach dem Tod der Mutter, zur zweiten Spielregel.

Zum Ende des Trauermonats will ich die Autoren durchgehen, die ungelesen im Regal modern wie Uwe Johnson und Hans Henny Jahnn.

Sie entscheidet sich für Peter Altenberg, den kennt heute sicher kaum noch jemand, und gelangt dann über Attila Bartis für B, Emil Cioran für C, Emily Dickinson, Salvador Espriu, Fukazawa Shichiro zu Julien Green und Hermann Hesse, an bekannten Autoren tauchen später noch Helene Hegemann, Ernst Jünger und Ovid auf. Die Mischung ist wild. Und die Leserin, oder „Lesschreiberin“, wie sie sich nennt, kommt, nach dem Titel des Romans ist das nicht überraschend, bis zum S.

Die Handlung selbst füllt, man ahnt es, nur einen Bruchteil der 656 Seiten. Weitaus umfangreicher sind die Buchbetrachtungen, Zitatsammlungen/Exzerpte, Kommentare. Dazu kommen einige sehr schöne Glossen und Miszellen über Intimrasur, Rechnungen in Restaurants, Neue Deutsche Welle, Kunst und Fußball und die assoziative Nähe von Radarkontrollen und jüngstem Gericht.

Wenn du geblitzt wirst, in dieser, ich weiß nicht, Zehntel- oder halben Sekunde, in der du buchstäblich nur noch rot siehst, der banalste Augenblick der Welt, dem nur der Blick auf den Tacho folgt – es durchfährt dich jedes Mal wie Strom, plötzlich gibt es nichts anderes, du … denkst tatsächlich, du seist erwischt worden, von einer höheren Macht erwischt bei allem, was du verbrochen hast, …

Das ist klassischer Kermani: Die Rückführung der Religion in den Alltag, das Auffinden von mystischen, ekstatischen, verdammnisbesorgten Partikeln im Banalen. Er ist ein Meister der kleinen Form, der er hier durch die formale Dramaturgie des Tagebuchs und des Alphabets eine manchmal strapaziöse Linearität aufgezwungen hat.

Das Gegenstück zu „Dein Name“

„Das Alphabet bis S“ ist damit das Gegenstück zu Kermanis großem Roman „Dein Name“, dem Versuch, die Grenzen des Fiktionalen zu durchbrechen, indem man versucht, alles aufzuschreiben, ohne Absatz, aber in immer fortlaufenden kleinen Texten. „Dein Name“, das war die Geschichte eines Helden namens Navid Kermani, der vom Ehekrach bis zur Krebserkrankung literarisch durchlebte, was dem Autor zugestoßen war in den Jahren 2006-2011. Das Buch erschien 2015. Natürlich ist die Änderung des Geschlechts identitätspolitisch provokant.

„Du kannst nicht leben und gleichzeitig darüber schreiben, wirklich leben, meine ich, also wenn du Bücher gegen die Wand schmeißt, weil du liebst. Bereits mit dem Präsens, nein, gerade im Präsens wird Literatur zur Fiktion.

Navid Kermani hat im Roman zwei Joker eingebaut: Paul Nizon und Peter Nadas. Beide große, vielleicht würde man sie heute autofiktionale Erzähler nennen, beide ziemlich sperrig im Vergleich zu Knausgard oder Annie Ernaux. Aber beide leben in ihren Büchern, weil sie dieses Leben mit Brüchen, mit Peinlichkeit radikal in den Dienst der Literatur stellen. Alte weiße Männer, eitel wie Nizon, freimütig im Begehren wie Nadas.

Martin Walser hatte dafür den Begriff des Entblößungsverbergungsmechanismus: Und vielleicht ist dieses Spiel mit dem Feuer der Öffentlichung bei Kermani etwas zu abgesichert. Bei ihm ist immer der Journalist und Wissenschaftler zu spüren, der sein Bild von sich deutlich machen will, vielleicht auch kontrollieren. Jetzt mit dem Wechsel in die weibliche Erzählstimme kommt eine sprachliche Verfremdungsebene dazu. Augen und Ohren, die erleben, was dann aufgeschrieben wird, gehören natürlich dem Körper eines Manns, der eine männliche Sozialisation hinter sich hat.

Spürbar wird das spätestens an einer kurzen Bettszene nach 200 Seiten, die eher plump pornographisch daherkommt und gar nichts mit dem Rest des Buchs zu tun hat. Flaubert meinte mal: Ich bin Mme Bovary. Navid Kermani könnte das von seiner Heldin nicht sagen.

Das „Alphabet bis S“ ist ein Genderexperiment Tagebuch aus einer seltsamen Perspektive – Kermani schreibt sein und zwar genau sein Leben als Frau, Schriftstellerin und Orientalistin.

Joachim Ringelnatz und der überzeugende Schein

Und nur damit neben der nicht ganz euphorischen Besprechung in diesem Beitrag noch eine richtige Empfehlung enthalten ist: Lesen Sie, wenn Sie es denn tun, bis zum Ende: Jedenfalls am Schluss, die Ringelnatz-Interpretation ist ein Highlight. Was Kermani an Ringelnatz an Identitätssuche des Künstlers mit Werk und Leben herausarbeitet, an Aktualität, an menschlicher Verzweiflung und an Hochkomik, ist das ganze Buch wert. Ein Gedicht gefällig?

„Ein Komiker von erstem Rang
Ging eine Straße links entlang.
Die Leute sagten rings umher
Hindeutend: „Das ist der und der!“

Der Komiker fuhr aus der Haut
Nach Haus und würgte seine Braut.
Nicht etwa wie von ungefähr,
Nein ernst, als ob das komisch wär.

Damit bringt Ringelnatz etwas auf den Punkt, was Kermanis Erzählerin abgeht:

„Das Dilemma des Künstlers, wenn der Schein so überzeugend ist, dass er für’s Leben genommen wird.“

Navid Kermani kann seiner Erzählerin nicht sein eigenes Leben leihen. So nah ans Leben kommt sie nicht, dass man sie damit verwechselt. Ist das jetzt autofiktionales Erzählen? Oder fiktional, weil der Dichter sich mit weiblichem Pronomen schmückt? Ich weiß es nicht, halte es aber leider auch für, wie sagt man, nebbich.

Aus den entlegenen Winkeln meines Bücherregals habe ich jedenfalls, nachdem ich das „Alphabet bis S“ gelesen habe, mehrere Bücher befreit – Paul Nizon und Joachim Ringelnatz zum Beispiel, aber auch Helene Hegemann. Das Buch wird vom Verlag als Roman kategorisiert. Das, finde ich, trifft es nicht. Aber mit vielen Unterstreichungen und Klebezetteln kommt „Das Alphabet bis S“ trotzdem ins Regal, zu den Sachbüchern.

Buchkritik Navid Kermani - Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näherkommen. Fragen nach Gott

Navid Kermani möchte auch jungen Leute zeigen, wie konstruktiv der Islam sein kann und wie friedlich Religionen nebeneinander existieren könnten.
Rezension von Barbara Dobrick.
Hanser Verlag, 240 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-446-27144-9

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