Sie waren die engsten Freundinnen, dann haben sie sich aus den Augen verloren, um im Alter wieder zueinander zu finden: Was die Jahre überdauert, was verbindet und trennt, wie sich Erinnerungen neu ordnen und sich Erwartungen erfüllen (oder nicht) – davon erzählt Monika Helfer in ihrem neuen Roman „Die Jungfrau“.
Aus dem Leben gegriffene Figuren
Wie Monika Helfer das gelingt – die Menschen, über die sie schreibt, so nah erscheinen zu lassen, dabei aber auf jede Übertreibung und jedes Pathos zu verzichten, die sich bei solchen Zooms aufs Intimste manchmal einschleichen!
Wie wohlwollend und doch auch rücksichtslos sie ihre aus dem Leben gegriffenen Figuren zeichnet oder auch formt – man weiß ja nie genau, wo die Erinnerung in Fantasie übergeht oder Wahrheit in Dichtung, und ob nicht ohnehin eins wie das andere ist.
Nach ihrer Trilogie über die eigene Familie, die der Autorin späten Ruhm eingebracht hat, widmet die österreichische Autorin sich in ihrem neuesten Roman einer Jugendfreundin. Gloria heißt sie, und sie ist – wie es der Titel des Buches unmissverständlich besagt – „Die Jungfrau“.
Diese Gloria war in ihrer Jugend ein schönes, schillerndes, aufgeregt das Abenteuer suchendes Mädchen, und ist doch immer allein geblieben. Nie habe sie mit einem Mann geschlafen, gesteht sie, obwohl die Männer sie „zauberhaft“ und „hinreißend“ fanden. Schauspielerin sollte sie werden, ein jeder traute ihr das zu, und in ihrer Familie war genug Geld für allerlei Träumereien.
Die alten Rollen haben alle biographischen Brüche überlebt
Die Ich-Erzählerin Moni verspürte damals vor 50 Jahren so etwas wie Eifersucht, sie empfand bei aller Zuneigung doch immer einen Mangel. Erst im Alter begegnen sich Moni und die von Krankheiten geplagte Gloria wieder, nach Jahrzehnten unabhängig voneinander gelebter Leben, die ihnen ganz unterschiedliche Erfahrungsräume eröffnet haben.
Als sie sich wiedersehen, hat sich aber kaum etwas geändert. Obwohl ihre Wege unterschiedlicher nicht hätten verlaufen können – Moni ist eine bekannte Schriftstellerin geworden, Gloria hat sich unglücklich verhaspelt –, scheinen die alten Rollen alle biographischen Brüche überlebt zu haben.
Schon sind sie in einem ihrer altbekannten Gespräche, die von Gloria bestimmt und ein bisschen auch ins Absurde getrieben werden. Solche Unterhaltungen zu führen – das sei eine der Arten, wie Gloria die Zeit vergehen lasse. Ein charakterisierender Satz, ein entlarvender auch.
„Es gehört ja zu den Glücksmomenten beim Schreiben, wenn ohne viel Nachdenken ein Satz entsteht, der den Schreiber selbst zum Nachdenken anregt. Als wäre mir der Satz diktiert worden. Ich will es nicht übertreiben, dennoch: »Es war eine der Arten, wie Gloria die Zeit vergehen ließ …« – über diesem Satz könnte man eine Philosophie errichten. Wenn jemand verschiedene Methoden entwickelt, die Zeit vergehen zu lassen, wie schaut so einer die Welt an, wie das Leben, wie sein Leben? Dann ist das Leben doch nur ein Abwarten. Wie sollte jemand, der wartet, etwas an sich und an seinem Leben verändern wollen? Er wartet. Erst wenn eintritt, worauf er gewartet hat, kann gehandelt werden. Dann erst, vorher nicht, kann man zum Beispiel die Frisur ändern.“
Monika Helfer führt mit Leichtigkeit verschiedene Ebenen zusammen
An dieser Passage enthüllt sich die Souveränität und Leichtigkeit, mit der Monika Helfer verschiedene Ebenen zusammenführt: Vergangenheit und Gegenwart, Beschreibung und Reflexion, das Konkrete und Abstrakte.
So öffnet die Wiederbegegnung mit der alten Freundin nicht nur einen Blick auf diese Beziehung, auf diese Mädchen- und Frauenfreundschaft, auf das Gemeinsame. Sondern auch auf die Unterschiede, die möglicherweise für beide wegweisend waren.
Monis Arbeit selbst wird zum Gegenstand, das Schreiben, jene einsame Tätigkeit, die auf das Zuspiel der Wirklichkeit ebenso angewiesen ist wie auf die aus dem Nichts auftauchenden Sätze, die fast alles auf den Punkt bringen können.
„Also drängt sich Gloria wieder in den Vordergrund. Dass ich über sie schreiben soll, deshalb: um ihr Leben neu zu erfinden. Diese Absicht traue ich ihr zu. Wenn einer dauernd »Ich« sagt, heißt das nicht unbedingt, dass er daran Gefallen hat, wie er ist. Gloria sagt »Ich« und schaut mich flehentlich an. »Ich, ich, ich!«“
Wie wird aus jemand eine Person, die sie vielleicht niemals sein wollte? Auch das fragt dieser kluge Roman. Wobei – Fragen werden hier nicht gestellt und nicht beantwortet. Monika Helfer ist zu klug dafür, und ihre Prosa zu tastend und behutsam.
Aber was in diesem schmalen Buch aufgerührt wird, wie nebenbei, ist eindrucksvoll: Wie es um das eigene Ich bestellt ist, mit all seinen Widersprüchen; wie sehr es ein Gegenüber braucht, um die eigenen Zweifel in Zaum zu halten; wie sehr beiläufige Wahrnehmungen manchmal etwas erspüren, das noch gar nicht akut, aber doch irgendwie im Raum ist.
Einmal sitzt Moni mit ihrem ebenfalls schreibenden Mann Michael – Monika Helfer ist übrigens mit dem Schriftsteller Michael Köhlmeier verheiratet – in einem Restaurant. Die beiden können nicht aus ihrer professionellen Haut und denken sich aus, was es mit dem sich lebhaft unterhaltenden Paar am Nebentisch auf sich hat.
„»Nein«, sagte ich, »ich wette, sie sind verheiratet. Sie kennen sich schon lang. Sie ist so. Sie spielt immer. Sie weiß es schon gar nicht mehr. Sie spielt allein vor dem Spiegel und spielt allein ohne Spiegel. Sie weiß nicht, wer sie ist. Es spielt ihr wie von selbst.« Und ich sagte noch: »Sie spielt nicht eine Frau, die sie sein möchte, aber nicht ist. Sie spielt irgendjemanden, nur damit sie selbst glauben kann, dass sie jemand ist.«
»Und das weißt du?«, sagte Michael. »Das weiß ich hundertprozentig!«, sagte ich. Das war, bevor ich Glorias Brief bekam. Und an Gloria hatte ich dabei nicht gedacht.“
Wiederbegegnung mit dem eigenen Ich
Die Wiederbegegnung mit Gloria ist für Moni eine Wiederbegegnung mit dem eigenen Ich. Ein Ich, das sich oft fehl am Platze fühlte, erfahrungsarm, unsicher, das nicht vor Selbstbewusstsein strotzte – gerade in Gegenwart der in bürgerlichen Verhältnissen aufwachsenden und wohlhabenden Gloria.
Vielleicht liegt auch in diesem Gegensatz, in dieser Hierarchie eine Erklärung für vieles von dem, was später kam: Wer nicht den Ton angibt, hört besser zu, beobachtet genauer, ist auf der Hut, lernt aber auch gewisse Gesten zu deuten und vermeintlich Belangloses zu verstehen.
Man entwickelt eine Sehnsucht. All das: Voraussetzungen für Schreiben. Die Freundschaft zu Gloria war eben auch eine Schule für die Schriftstellerin, eine Schule der Wahrnehmung, der genauen Beschreibung. Einmal heißt es über Gloria:
„Wie kann das sein? Dass ein Mensch neben dem Fluss der Zeit steht … er sieht auf den Fluss, sitzt da wie ein Indianer vor seinem Zelt, Dinge, Tiere, Männer, Frauen schwimmen an ihm vorüber …“
Schöner und trauriger lässt sich Glorias Verhältnis zum Dasein kaum benennen.
Romane über Frauenfreundschaften haben Konjunktur, nicht erst, aber besonders seit dem Welterfolg von Elena Ferrantes farbenreicher neapolitanischer Saga. Mit dieser ist Monika Helfers bescheiden daherkommende Erzählung nicht zu vergleichen.
Und doch ist sie alles andere als einfach, karg oder eindimensional: In ihr werden, wenn auch subtil, die merkwürdigen und unvorhersehbaren Wege nachvollzogen, die zwei von einem gemeinsamen Ort aus tun, die Unterschiede der Herkunft, die verschiedenen Temperamente, die vielfältigen Wahrheiten, die seltsamen Spielformen der Liebe, deren körperlicher Verzug zuweilen solange hinausgezögert wird, bis er nicht mehr vorstellbar ist.
„Die Jungfrau“ ist am Ende ein Buch über die Literatur, darüber, was sie vermag und was sie darf, und wie ein Leben selbst zu einem literarischen wird.
„Darf ein Leben in der Einbildung nicht ebenso als Wirklichkeit bezeichnet werden?“
Die Antwort gibt der Roman selbst: natürlich darf es das.
Zeitgenossen Monika Helfer: „Kritik ist immer brutal“
Die 1947 im Bregenzerwald geborene Schriftstellerin Monika Helfer veröffentlicht seit Jahren Romane, Erzählungen und Kinderbücher. Aber erst mit ihren autobiografisch grundierten Bestsellern „Die Bagage“ und „Vati“ wurde sie einem breiten Publikum bekannt.
Buch der Woche | Corona-Bibliothek Monika Helfer - Die Bagage
Monika Helfer erkundet in ihrem Roman „Die Bagage“ familiäre Lebenswege, vor allem das Schicksal einer Landfrau in Zeiten des Ersten Weltkriegs und beeindruckt dabei mit einer ebenso sensiblen wie klugen Erzählweise.
Rezension von Carsten Otte.
Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-26562-2
160 Seiten
19 Euro
Buchkritik Monika Helfer – Vati
Nach ihrem Bestseller „Die Bagage“ erkundet Monika Helfer weiter die eigene Familiengeschichte. Ihr „Vati“ ist ein verwitweter Kriegsversehrter, der Bücher liebt. Der Roman erzählt von der Hoffnung der Nachkriegsgesellschaft auf ein besseres Leben, aber auch von sprachlos machenden Lebenslügen.
Rezension von Carsten Otte.
Hanser Verlag, 176 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-3446269170