Buchkritik

Millay Hyatt – Nachtzugtage

Stand
Autor/in
Jonathan Böhm

Millay Hyatt erzählt in ihrem großen Essay von der Faszination der Zugreisen bei Nacht, von Beobachtungen und Erlebnissen auf ihren Fahrten kreuz und quer durch Europa. In „Nachtzugtage“ verbindet die amerikanische/deutschamerikanische/amerikanisch-deutsche Philosophin autobiographisch grundierte Reflexion mit literarischer Erzählkunst.

Auf dem Cover strahlen verschlungene Linien in Blau und Orange, darauf der Schriftzug „Nachtzugtage“. Auch auf dem Vorsatzpapier und nach dem letzten Kapitel hat die Gestalterin diese Linien verwendet.

Sie mögen wohl symbolisch stehen für die verschlungenen Wege, auf die uns die Philosophin Millay Hyatt mitnehmen will. Sie hat ein Buch geschrieben, das sich ganz dem Zugreisen bei Nacht und manchmal auch bei Tag widmet. 

Am Abend auf Reisen zu gehen hat etwas unabweisbar Beglückendes, man kann es sich eigentlich nicht recht erklären, aber da es anhält, vertraut man irgendwann darauf. 

Zitiert sie den Autor Steffen Kopetzky, der im Buch immer wieder auftaucht. Bevor es aber losgehen kann, gibt es oft jede Menge Hürden zu überwinden: Da gibt es Verbindungen, die im Internet nicht angezeigt, Fahrkarten, die online nicht gebucht werden können, Fahrkartenschalter, die kaum zu finden sind und deren Personal teilweise nicht in der Lage ist, sagen wir, ein Ticket von Berlin nach Istanbul zu buchen. 

Ungepolsterte Begegnung mit der Welt 

Dennoch ist die 1973 in Dallas/Texas geborene und in Deutschland aufgewachsene Millay Hyatt eine leidenschaftliche Zugreisende: Es ist der Reiz der „ungepolsterten Begegnung mit der Welt“, wie sie schreibt, der dazu führt, dass sie, wo immer sie kann, der Reise auf der Schiene den Vorrang gibt, vor dem Auto und vor allem dem Flugzeug.  

Erstens: Die Bewegung des Zuges und mein Ruhezustand innerhalb dieser Bewegung schärfen die Aufmerksamkeit. Zweitens, weil ich hier die Muße habe, meiner Ausdruckslust freien Lauf zu lassen.  

In dreizehn Kapiteln, denen jeweils eine Karte der betreffenden Fahrtstrecke vorangestellt ist, umkreist Hyatt verschiedene Aspekte ihrer Nachtzugreisen, die sie unter anderem nach Edinburgh, Valencia, Athen oder sogar ins georgische Tbilissi führen. 

Eingeschlossensein mit Fremden 

Mal geht es um die Faszination für Modellbahnen, mal um das Eingeschlossensein mit Fremden in der Kapsel des Abteils, stets in Form anschaulicher kleiner Geschichten: Da ist der Kampf mit dem renitenten deutschen Nachtzugbegleiter, der erst behauptet, in dem Zug seien keine Betten mehr frei, nur um ihr dann nach zäher Diskussion doch ein Schlafabteil aufzuschließen, in dem die Autorin sogar allein nächtigen kann.

Da ist die Begegnung mit einer jungen Frau in einem türkischen Nachtzug, mit der sich Hyatt nicht einmal verständigen kann und die dennoch ihr Essen mit ihr teilt. Da ist die Schönheit Belgrads und anderer Städte, die Hyatt beim Umsteigen unverhofft entdeckt.

Da ist die improvisierte Fahrt mit einem Nachtbus ins bulgarische Nirgendwo, die ihr den Anschlusszug nach Budapest sichert. Und nicht zuletzt sind da die unzähligen Beobachtungen auf den Bahnhöfen, aus dem Zugfenster, im Abteil, hinter die Hyatt sogar selbst zurücktritt: 

Ich löse mich auf, werde unsichtbar, es bleibt nichts von mir übrig als mein Beobachtungsvermögen.  

Wenn sie dem Streit fremder Paare lauscht oder beobachtet, wie sich eine Frau auf einem Bahnhofsklo verstohlen den Schritt wäscht, ist Millay Hyatt immer auch Voyeurin, aber eine, die stets versucht, sich dies bewusst zu machen und das Bewusstsein für den eigenen Blick zu schärfen.

Hyatt gibt darüber hinaus oft Einblick in ihr Leben, etwa wenn sie über ihre Trennung schreibt oder an der Pariser Gare de l’Est einer vor kurzem wieder aufgeflammten Liebe nachspürt. 

Unüberwindbare Grenzen 

All diesen Wegen folgt man ihr äußerst gerne, denn das Buch ist locker geschrieben in einem feinen literarischen Ton.  

Sehr selten stockt die Lektüre in reflektierenden Passagen, wo die Philosophin Millay Hyatt durchscheint und ihr Formulierungen etwas verkopft geraten. Aber das schmälert das Lesevergnügen in keiner Weise.

Gleichzeitig ist „Nachtzugtage“ auch ein politisches Buch: Ihrer Sehnsucht, nach Russland zu reisen kann die Autorin aufgrund des Krieges in der Ukraine nicht mehr so nachgehen wie gedacht, in Ankara wird sie an den Putsch von 2016 erinnert und in Griechenland wird sie auf einer Fähre zur Zeugin von Pushbacks der dortigen Polizei gegen Flüchtlinge. Das Überwinden von Grenzen ist eben nicht für alle so mühelos wie für eine weiße Mitteleuropäerin. 

Das und die zahlreichen literarischen Anspielungen auf berühmte Zugreisen, sei es bei Proust, Schwarzenbach oder Nabokov machen „Nachtzugtage“ zu einer vielschichtigen Lektüre, die Lust macht, sich trotz aller Widrigkeiten selbst auch einmal wieder auf das Abenteuer Nachtzugreise einzulassen. 

Mehr Literatur über das Reisen und ferne Streifzüge

Buchkritik Stefanie Sargnagel – Iowa. Ein Ausflug nach Amerika

Wenn Amerika ruft, macht sich Stefanie Sargnagel natürlich auf: An einer Elite-Uni in Iowa gibt sie einen Creative-Writing-Kurs und schreibt nebenbei eine Art Tagebuch über die Merkwürdigkeiten in der amerikanischen Provinz – mit dabei: die Kult-Musikerin Christiane Rösinger.
Rowohlt Verlag, 304 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-498-00340-1

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