Ein echter Mordfall als Vorbild
True-Crime-Grusel gab es bei Hitchcock eigentlich nie. Die Suspense, die Spannung, entstand bei ihm anders, meist aus den Konflikten klug erdachter Figuren. Doch der Film „Cocktail für eine Leiche“ (englischer Originaltitel: „Rope“) von 1948 hatte ein reales Vorbild im Mordfall um die Chicagoer Studenten Nathan Leopold und Richard Loeb.
Eine Cocktailparty mit einer Leiche in der Truhe
Der Film spielt in einem luxuriösen Penthouse in New York. Die Vorhänge vor den Panoramafenstern sind zugezogen, denn hinter diesen Vorhängen ermorden Brandon und Phillip ihren Freund David.
Anschließend verstecken sie David in eine Truhe im Wohnzimmer. Und genau auf dieser Truhe bauen sie dann das Büffet für eine Cocktailparty auf, zu der lauter Gäste eingeladen sind, die David nahestehen: sein Vater und seine Verlobte, die natürlich nicht wissen, dass seine Leiche in der Truhe liegt.
Der perfekte Mord als schöne Kunst betrachtet
Die makabere Inszenierung ist vor allem Brandons Werk. Er versteht den perfekten Mord als Kunstwerk. Hier erinnert Hitchcock an den Essay „Mord als schöne Kunst betrachtet“ des britischen Schriftstellers Thomas De Quincey (1785-1859), sagt Elisabeth Bronfen, Literaturwissenschaftlerin an der Universität Zürich und an der New York University.
Für den Dandy Brandon stünden „Eleganz und Ritual“ im Vordergrund und er verstehe im Grunde gar nicht, „was es bedeutet, jemanden umzubringen“.
Das Gespräch mit Elisabeth Bronfen in voller Länge
Der Mord als Beweis für Nietzsches „Übermensch“
Brandon und Phillip wollen aber nicht nur einen Mord als Kunstwerk inszenieren. Sie wollen mit ihrer Tat auch Friedrich Nietzsches Theorie des Übermenschen beweisen. Der Mord ist für sie ein Privileg für wenige Auserwählte. Recht und Moral brauche es nur für die Gesellschaft der Durchschnittsmenschen.
Hitchcocks Film, der wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg gedreht wurde, enthalte damit nachträglich einen Kommentar zum Nationalsozialismus, so Hitchcock-Expertin Bronfen.
Ein filmischer Kommentar zum Nationalsozialismus
Hitchcock war während des Zweiten Weltkriegs politisch engagiert, er machte Filme, die den Kampf gegen Nazi-Deutschland propagierten.
In „Cocktail für eine Leiche“ weise er darauf hin, wie die Politik im Nationalsozialismus als „Gesamtkunstwerk“ betrachteten wurde, erklärt Elisabeth Bronfen.
Hitchcock habe sich für das totalitäre Gedankengerüst der Nazis interessiert, das zunächst Ideologie war und dann zerstörerisch und menschenverachtend in der Realität umgesetzt wurde.
Der Professor: Der Unterschied zwischen Denken und Handeln
Hier sei auch die Figur des Professors von Brandon und Phillip wichtig, der den Mord am Ende des Films aufdeckt, so Bronfen. Der Professor, gespielt von James Stewart, verkörpere die Differenz zwischen Denken und Handeln, von Theorie und Praxis.
Er hatte den beiden Mördern Nietzsches Überlegenheitsideen beigebracht. Gleichzeitig erschreckt ihn, wie diese Ideen durch den Mord an David Realität werden. Ein Erschrecken, das zu spät kommt.
Schwule Mörder – ein Tabubruch im Hollywood der 1940er-Jahre
Kritisch mit seiner Zeit ist Hitchcock noch auf andere Weise: Die beiden eleganten Mörder Brandon und Phillip sind homosexuell. Hitchcock wollte bewusst einen Film über zwei Mörder machen, die in einer schwulen Beziehung zusammenleben. In Hollywood waren Schwule bis dahin nur als clowneske Nebenfiguren inszeniert und lächerlich gemacht worden.
Hitchcock brach das Tabu. Er zeigte zwei Homosexuelle, die zwar Mörder sind, aber klug und charmant, mit einem Wort so komplex und bemerkenswert wie die anderen berühmten Hitchcock-Bösewichte.
Die Inszenierung der herzlosen Mörder könne man als schwulenfeindlich lesen, meint Elisabeth Bronfen. Oder auch als „eine Form von Selbstbemächtigung, nämlich der Mord als eine Art, sich in seiner Vision davon, was man tun möchte, durchzusetzen.“
Hitchcock unterminiert die Konventionen seiner Zeit
Hier zeige sich der ambivalente Blick von Alfred Hitchcock. Er bediene sich der Konventionen seiner Zeit „und gleichzeitig unterminiert er sie“. Perfekt inszeniertes Hollywood-Kino, das beim genauen Hinschauen die eigene Zeit kritisch hinterfragt. Vielleicht sind auch Alfred Hitchcocks Filme gewissermaßen eine Truhe mit einem Toten, auf der ein opulentes Mahl serviert wird.