Theaterverfilmung über den Frankfurter Auschwitz-Prozess

Anatomie eines Völkermordes: „Die Ermittlung“ von RP Kahl

Stand
Autor/in
Rüdiger Suchsland

Das Theaterstück „Die Ermittlung“ von Peter Weiss ist eines der erfolgreichsten deutschen Theaterstücke der Nachkriegszeit über ein Gerichtsverfahren, das die Bundesrepublik veränderte. Knapp zwei Jahre dauerte der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess, bei dem Deutsche über Deutsche zu Gericht saßen. Regisseur RP Kahl hat das Stück mit über 60 deutschen Schauspielern fürs Kino verfilmt.

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Ein Film über das Verschweigen

Der Clou von RP Kahls Verfilmung von Peter Weiss' „Die Ermittlung" ist eigentlich ganz einfach: Der Film zeigt nichts. Und dadurch macht er alles sichtbar.

Filmstill
Nach vierwöchiger Probenzeit haben sechzig Schauspielerinnen und Schauspieler den Text von Peter Weiss für die Kinoleinwand zum Leben erweckt. An insgesamt fünf Drehtagen wurde im Studio Berlin Adlershof mit einem ausgefeilten visuellen Konzept in jeweils nur einer Einstellung gedreht – eingefangen von insgesamt acht Kameras.

Es ist ein Film, in dem es um den ersten Auschwitz-Prozess in Frankfurt geht, den ersten NS-Prozess bei dem Deutsche über Deutsche zu Gericht saßen – nicht die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. 

Der Prozess endete ziemlich genau zwei Jahrzehnte nach der Kapitulation des Deutschen Reichs. Deswegen ist dies auch ein Film über den Umgang mit der Ermordung der europäischen Juden in der frühen Bundesrepublik, ein Film über Verdrängung und Verdrängungsverweigerung, über Tonlagen und Wortwahl beim Sprechen über das Unaussprechliche, ein Film über das Verschweigen.

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Im Zentrum des Films stehen ein Richter (Rainer Bock), ein Verteidiger und ein Ankläger, die im Rahmen der Verhandlung auf 28 Zeuginnen und Zeugen treffen, die von ihren Erlebnissen und Beobachtungen in Auschwitz berichten. Bild in Detailansicht öffnen
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Den Verteidiger spielt Bernhard Schütz. Bild in Detailansicht öffnen
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Clemens Schick spielt den Ankläger. Bild in Detailansicht öffnen
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Hochkarätig besetzt sind auch alle anderen Rollen, so werden die Zeuginnen und Zeugen u.a. von Karl Markovics als Zeuge 26, ein Häftlings-Zeuge g. Bild in Detailansicht öffnen
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Die Zeugin fünf, eine Häftlings-Zeugin, wird gespielt von Nicolette Krebitz. Bild in Detailansicht öffnen
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Christiane Paul ist Zeugin Nummer neun, eine Häftlings-Zeugin. Bild in Detailansicht öffnen
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Andreas Pietschmann als Zeuge 37, ein Zeuge der Lagerverwaltung. Bild in Detailansicht öffnen

Theaterstück von Peter Weiss komprimiert zwei Jahre Prozess

Heutzutage ist Weiss, der den Nationalsozialismus als Emigrant in Schweden überlebte und erst spät nach dem Krieg nach Deutschland zurückkehrte, ein weitgehend vergessener Autor. Damals, in den Jahren vor 1968, war er in der Mischung aus Nüchternheit und unerbittlichem Engagement sehr en vogue.

Weiss war selbst bei den Auschwitz-Prozessen dabei, und hat seine Prozessnotizen und die öffentlichen Protokolle benutzt und mit Hilfe dieser Aufzeichnungen den zwei Jahre dauernden Prozess auf vier Stunden verdichtet.

Nüchternes und mitreißendes Gerichtsdrama

Seinerzeit war „Die Ermittlung“ ein Riesenerfolg auf allen deutschen Bühnen beider Deutschlands. Als Film ist dies ein nüchternes, kühles, aber zugleich mitreißendes Gerichtsdrama, ein Prozessfilm.

Kahl verfilmt das Stück. Es ist nicht einfach abgefilmtes Theater, er macht einen Film ohne den Text seines Theater-Charakters zu berauben. Es ist ein Film ohne naturalistische Kostüme.

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Unter der Regie von RP Kahl ist ein künstlerisch radikales Projekt entstanden. Es versucht mit den Mitteln von Kino und Theater einen zeitgemäßen Beitrag zur Erinnerungskultur zu leisten.

Der Film ist auch ein Film über die Gegenwart. Über die Leichtfertigkeit unseres Umgangs mit den Schrecken únd Massaker unserer Zeit und über unsere Unfähigkeit zu trauern, die auch eine Unfähigkeit ist, aus Auschwitz für die Zukunft zu lernen.

Dieser Film ist weder illustrativ, noch einfach verfilmtes Theater. Neben die Worte treten die Gesichter und Körper der Schauspieler. Und die Bilder in unserem Kopf.

Der bisher beste deutsche Film des Jahres

Wie erzählt man von Auschwitz? Dieser Film reißt einen mit, und lässt ganz viele Bilder im Kopf entstehen. Es bleibt immer sehr würdevoll.

Ein hochriskanter, sehr mutiger Film – dass das überhaupt finanziert und dann so realisiert wurde, spricht sehr für das deutsche Fernsehen und den deutschen Film. „Die Ermittlung" ist bis heute der beste deutsche Film des Jahres.

Trailer „Die Ermittlung“ von KP Kahl, ab 25.7. im Kino

Meilenstein in der Aufarbeitung der NS-Verbrechen Unbedingte Empfehlung: Serie „Deutsches Haus“ auf Disney+ über den Auschwitz-Prozess

Vor 60 Jahren begann in Frankfurt der Auschwitz-Prozess – ein Meilenstein in der Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Deutschland. Die Autorin Annette Hess erweckt diese Zeit in der Disney+-Serie „Deutsches Haus“ zum Leben.

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20.12.1963 Der Frankfurter Auschwitz-Prozess beginnt

Am 20. Dezember 1963 beginnt der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess. Initiiert wurden die Prozesse vom Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Sein Ziel war es, die Verantwortlichen im Vernichtungslager Auschwitz zur Rechenschaft zu ziehen.
Der Prozess hatte auch eine starke politische Bedeutung: 1961 fand in Jerusalem der Prozess gegen den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann statt, im Frühjahr 1963 hatte die DDR Bundeskanzleramtschef Hans Globke wegen seiner Nazivergangenheit verurteilt. Die Bundesrepublik war in der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen somit ein Nachzügler.
Gleichzeitig stand die Öffentlichkeit den Prozessen gespalten gegenüber. Es gab ein großes Bedürfnis, nicht an die die NS-Zeit erinnert zu werden. Ein öffentlicher Prozess, der die Vergangenheit wieder aufwühlen würde, würde dem Ansehen Deutschlands schaden, so eine weit verbreitete Meinung.
Diesen Zwiespalt spiegelt der Kommentar von Werner Ernenputsch im zweiten Teil dieser Aufnahme. Zunächst zu hören ist aber die Live-Reportage vom Hessischen Rundfunk von der Prozesseröffnung im Frankfurter Römer.
Im Sitzungssaal des Frankfurter Stadtparlaments beginnt der Prozess gegen 22 Angeklagte. Vor Saalgeräuschen im Hintergrund eröffnet Richter Hans Hofmeyer den Prozess. Es werden Angaben zur Person der Angeklagten und der Geschworenen gemacht und Einzelheiten des Gerichtssaals beschrieben.
Von den Verhandlungstagen ab 1964 existieren zahlreiche Aufnahmen – einzelne davon im Archivradio, die meisten aber auf den Seiten des Fritz-Bauer-Instituts.

28.8.1964 Auschwitzprozess: Ärzte im "Zigeunerlager" – Der Name "Mengele" taucht auf

28.8.1964 | Der erste Auschwitzprozess fand zwischen 1963 und 1965 in Frankfurt am Main statt. Zu den zentralen Themen des ersten Auschwitzprozesses gehörte die Frage, welche Ärzte die "Selektion“ betrieben haben. Damit ist die Aussonderung von kranken und alten Gefangenen gemeint, die unmittelbar der Tötung zugeführt werden sollten. Bei den Selektionen waren meist Ärzte dabei; ihnen oblag die Entscheidung über Leben oder Tod.
Die Vernehmung des Zeugen und späteren Nebenklägers Aron Bejlin durch Richter Hans Hofmeyer am 28. August 1964 dreht sich um diese Frage. Bejlin war selbst Arzt und lebte in seiner Häftlingsbaracke mit anderen Ärzten zusammen. In unmittelbarer Nachbarschaft befand sich das "Zigeunerlager“, wo laufend Selektionen stattfanden. Innerhalb kurzer Zeit, so der Zeuge, waren alle Zigeuner vernichtet. Im Lagerjargon gab es den "Goebbels-Kalender“ – ein makabrer Begriff für jüdische Feiertage, an denen die SS besonders viele Vergasungen unternahm.
Aron Bejlin wurde, wie viele Ärzte unter den Häftlingen, zu pflegerischen Aufgaben abgestellt und berichtet von 40 griechischen Jungs, die er mit seinen primitiven Verbandsmaterialien nicht versorgen konnte. Den Kindern hatte der Lagerarzt Horst Schumann mit Röntgenstrahlen die Hoden verbrannt.
Bejlin erwähnt mehrmals in der Vernehmung den Lagerarzt Josef Mengele. Er ist heute für seine medizinische Experimente an Gefangenen berüchtigt und rückte erst durch diesen Prozess ins Bewusstsein der Strafverfolgung. Mengele starb unbehelligt 1979 in Südamerika.

8.10.1964 Die Rolle der Ärzte in den Gaskammern

8.10.1964 | In diesem Ausschnitt vom 8. Oktober 1964 erzählt der ehemalige Auschwitz-Häftling Filip Müller von seinen Beobachtungen von Ärzten im Umfeld der Gaskammern und Verbrennungsöfen. | http://swr.li/aerzte-in-auschwitz

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