Zwei Dostojewski-Adaptionen hat Salzburgs Intendant Martin Hinterhäuser in diesem Jahr ins Programm genommen: Prokofjews „Der Spieler“ wird Mitte August seine Premiere feiern, bei Mieczysław Weinbergs Oper „Der Idiot“ war es bereits am 2. August soweit. Krzysztof Warlikowski inszeniert zum vierten Mal in Salzburg, die musikalische Leitung hat die Dirigentin Mirga Grazinyté-Tyla übernommen.
Krzysztof Warlikowski inszeniert Mieczysław Weinberg
Spielt der politische Zufall Markus Hinterhäuser, dem Intendanten der Salzburger Festspiele, in die programmatischen Hände? Einen Tag vor der Premiere von Mieczysław Weinbergs Oper „Der Idiot“ findet ein großangelegter Austausch politischer Häftlinge aus russischen Gefängnissen statt. Der Komponist Weinberg ist selbst ein vom Sowjetsystem, ein von den Russen gebeutelter, im Zweiten Weltkrieg vor den Deutschen nach Russland geflohener polnischer Jude.
Seine Dostojewski-Oper konnte erst 2013, zwanzig Jahre nach Weinbergs Tod, in seiner kompletten Fassung in Mannheim uraufgeführt werden. In Putins Russland gab es keine Aufführung. Die Titelfigur Fürst Myschkin, ein zu Lüge, Intrige und Gemeinheit unfähiger Idiot als weiser Gottesnarr, war eine Identifikationsfigur Weinbergs. Und er scheitert an der Brutalität seines Gegenübers Rogoschin, mit dem er sich auf der Rückfahrt aus dem Schweizer Sanatorium nach Russland anfreundet.
Rogoschin ersticht am Ende die von beiden begehrte Nastassja und führt den Fürsten zu ihrer Leiche. Anders aber als Dostojewskis Idiot, verfällt Myschkin bei Weinberg nicht dem Wahnsinn. Die beiden Antipoden liegen als zwei Teile eines Ganzen neben der Toten, um sich vor der aufziehenden Kälte zu schützen. Gibt es ein treffenderes Bild für unser heutiges Verhältnis zu Russland?
Cinemascope-Kulisse von Małgorzata Szczęśniak
Das ist Krzysztof Warlikowskis Schlussbild einer brillant ausgefeilten Inszenierung als filmische Oper. Alles ist im epischen Fluss, angefangen mit der Zugfahrt eines Sitzabteils, das auf der immensen Breite der Bühne der Felsenreitschule vorbeizieht.
Małgorzata Szczęśniak hat eine Cinemascope-Kulisse mit einer edel-dunklen Holzwand gebaut, davor ein langer Tisch für die Gesellschaftsszenen, dahinter eine Leinwand und Tafel, auf die Myschkin komplizierte Gleichungen Newtonscher Schwerkraftformeln und Einsteinscher Relativität schreibt. Ein herausfahrender Kasten dient als enge Nähe von Rogoschins Kammer, in der er sich mit Myschkin verbrüdert und am Ende Nastassja ermordet.
Eine Regie, so fesselnd wie ein Krimi
Das komplizierte Beziehungsgeflecht zwischen Myschkin und Rogoschin, sowie zwischen Nastassja und der um den Fürsten kämpfenden und zurückweisenden Aglaja, ist als psychologisch ausgefeilte Personenführung gestaltet.
Letztlich ist es die mephistophelische Erzählerfigur Lebedjew, der mit Zaubertricks, Grimassen und grotesken Tanzbewegungen den eigentlichen Hintergrund der Zerrissenheit erhellt: Es ist die perverse Beziehung zum Geld, mit der Frauenkörper verkauft werden und die alle Möglichkeiten der menschlichen Beziehungsliebe des Fürsten zerstört.
Weinberg setzt als Gesellschaftschor bemerkenswerterweise nur Männer ein. Sie treten als lärmige Börsenspekulanten in Anzug, Krawatte und Bowlerhut auf. Es ist eine von der ersten bis zur letzten Minute fesselnde Regie, spannend wie ein Krimi, der zum Abgrund führt.
Bis in die Nebenrollen perfekt besetzt
Bis in die Nebenrollen ist das alles perfekt besetzt: Xenia Puskarz Thomas als Aglaja ist eine stimmliche Offenbarung. Keineswegs die brave Tochter aus gutem Haus, sondern mit vokalen Vulkanausbrüchen. Damit nimmt sie es mühelos mit ihrer Rivalin Nastassja auf, deren innere Zerrissenheit Aušrinė Stundytė mit dunkler Stimmgröße verkörpert. Vladislav Sulimsky ist ein Gigant als Rogoschin, der Elende mit Zarenstimme.
Und schließlich ist da Bogdan Volkov als Myschkin. Was für ein Sänger! Ein lyrischer Tenor voll zärtlicher Empfindsamkeit bis in die Haarspitze. Sängerisch wie darstellerisch eine Totalhingabe, wenn er nur mit Lendenschurz bekleidet, wie Holbeins aufgebahrter Christus als Gottesmensch auf dem Tisch liegt. Wie er singt, wie er spielt, wie er nach der Verbrüderung mit Rogoschin in einen epileptischen Anfall fällt, das rührt zu Tränen.
Wie das ganze Ensemble und das Regieteam wird auch Mirga Grazinyté-Tyla am Pult der Wiener Philharmoniker absolut berechtigt gefeiert. Sie koordiniert herausragend Weinbergs epischen Fluss mit dem verdichteten Motivgeflecht, das den Motor dieser Roman-Oper bildet. Da ist alles en Detail ausgefeilt, die Klanggewalt, wie die intime Ausdünnung in die Solopartien hinein.
Und es ist die perfekte Symbiose mit Warlikowskis spannungsgeladenem Fluss seiner Regie. Mit dieser Aufführung von Mieczysław Weinbergs „Der Idiot“ ist den Salzburger Festspielen ein meisterhafter Coup gelungen. Er trifft ins Mark der Zeit.