Charlotte Isler ist Medizinjournalistin und Buchautorin, 1924 in Stuttgart in eine jüdischen Familie hineingeboren. Sie hat das NS-Regime, den Judenhass, den Holocaust überlebt. Ihre Großmutter Sigmunde Friedmann ließen die Nazis im Frühling 1944 KZ Theresienstadt verhungern, Onkel, Tante und Cousin und viele andere Verwandte und Freunde der Familien Nussbaum und Friedmann kamen in der NS-Zeit ums Leben. Verschleppt. Verhungert. Ermordet.
Heute sagt Charlotte, dass ihr Leben gut und gelungen sei. Den Nazis zum Trotz. Ihr Lebensmotto: "Tun, was man tun muss". Ihr Appell:
Charlotte erlebt Machtergreifung und NS-Regime
Viele von Charlottes Kindheitserinnerungen klingen unbeschwert. Die Nazis haben es nicht geschafft, die inneren Bilder kaputtzumachen. 1932 sind die Comedian Harmonists in Deutschland populär; man feiert und bejubelt die sechs Männer. Drei von ihnen sind Juden. So wie Charlotte, die acht Jahre alt ist und gar nicht weiß, was das eigentlich heißen soll: Jude zu sein. Ihr Leben im Stuttgarter Süden fühlt sich Anfang der 30er Jahre sorglos an. Familie Nussbaum, ihre Ursprungsfamilie, ist eine angesehene Unternehmerfamilie, sehr gebildet, sehr musikalisch.
Bei den Nussbaums war immer was los, erzählt Charlotte: Freunde, Nachbarn und Geschäftspartner gehen ein und aus: Man trifft sich zum Musizieren, turnt, geht Skifahren. Meistens mitten drin: Charlotte und ihr kleiner Bruder Ernst.
1933 bis 1945 Die NS-Zeit
Der Nationalsozialismus unter Hitler: 12 Jahre Diktatur, Staatsterror und Holocaust.
Charlotte schreibt Gedichte über Nazis und Hitler
Die Eltern wollen nicht darüber sprechen – zu gefährlich. Kinder reden bekanntlich viel und wissen nicht, was ein Geheimnis ist. Charlotte hätte jedem sofort mit Begeisterung die Antworten der Eltern erzählt.
Pogromnacht: Charlotte entkommt Völkermord
New York, 27. April 1939: Am Pier des Hafens in New York steht ein junges Mädchen und spielt mitten in der Nacht Geige. Es ist Charlotte. Heimatlos, geflüchtet aus Stuttgart. Was sie damals noch nicht weiß: Sie ist nur ganz knapp dem nationalsozialistischen Völkermord entgangen. Mehr als sechs Millionen europäische Juden und Jüdinnen werden sterben.
Charlottes Mutter hatte sich schon früh, als die Nazis mehr und mehr auf der Bildfläche erschienen, um ein Visum für Amerika bemüht. Ein Glücksfall, denn spätestens nach der Pogromnacht im November 1938 ist für die Nussbaums klar, dass es in Stuttgart keine Zukunft mehr für sie gibt: Der Familienbetrieb ist bereits arisiert, enteignet. Der Vater: arbeitslos.
Charlotte erlebt die Entrechtung und Demütigung mit den Augen eines Kindes: Sie darf als Jüdin nicht mehr ins Schwimmbad, auch nicht mehr ins Theater oder die Oper. Der Geigenlehrer will sie nur noch heimlich unterrichten; Freunde der Familie kommen seltener und dann gar nicht mehr. Dann kommt der Morgen nach der Pogromnacht, Charlottes letzter Tag an der Charlotten-Realschule.
Charlottes Vater hatte großes Glück, er wurde nicht wie so viele andere nach Dachau ins KZ gebracht. Er wurde nach Hause geschickt, weil er ein Visum für die USA hatte und damit beweisen konnte, dass er Deutschland verlassen würde. Als Strafe dafür musste er eine "Reichsfluchtsteuer" zahlen: "So ziemlich alles, was man besaß, Wertsachen, Geld, Bankkonten", erinnert sich Charlotte.
9. November 1938 Reichspogromnacht – Das schwierige Gedenken
In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 begann die offene, systematische Judenverfolgung. Das Gedenken daran fiel den Deutschen lange schwer.
Flucht vor dem Nationalsozialismus in die USA
Charlotte kann mit ihrer Mutter, dem Vater und ihrem Bruder Ernst 1939 in die USA emigrieren und bleibt dort. Die ersten Jahre sind schwer und kräftezehrend. Die Familie muss bei Null anfangen. Von den Nazis komplett beraubt, verarmt und traumatisiert kämpfen die Eltern um eine neue Existenz. Der Vater wird nie mehr richtig Fuß fassen – aber die Mutter! Sie schafft es später als Physiotherapeutin. Die Kinder kommen erst einmal zu Pflegeeltern, weil Wohnraum in den USA knapp und für vier Personen nicht zu bezahlen ist. Charlotte ist 14 Jahre alt – sie wird nie mehr mit Vater und Mutter zusammenleben.
"Stuttgart: Flucht und Wiederkehr" von Charlotte Isler
Charlotte hat ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben: die Kindheit und Jugend in Stuttgart, die Flucht, der schwierige Start in den USA, ihre Ausbildung zur Krankenschwester und später der Wechsel in den Medizinjournalismus. Vorher noch die Heirat und dann die Kinder und langsam – ganz langsam – das Gefühl, wieder eine Heimat zu finden.
Ihr Buch "Stuttgart: Flucht und Wiederkehr" wurde vom Stadtarchiv Stuttgart herausgegeben und unter anderem im "Hotel Silber" vorgestellt. Dort war in der NS-Zeit die Gestapo-Zentrale für Württemberg und Hohenzollern; es sollte abgerissen werden. Charlotte kämpfte mit für den Erhalt, heute ist das "Hotel Silber" Forschungsort, Museum und Gedenkstätte im Großen. So wie die Stolpersteine im Kleinen, die vor vielen Stuttgarter Häusern im Boden eingelassen sind.
Stolpersteine und Erinnerungskultur
Die Botschaft der Stolpersteine: "Erinnert Euch!". Kleine, zehn auf zehn Zentimeter große Mahnmale vor Haustüren und Eingängen. "Hier wohnte ein Mensch, der unter den Nazis deportiert, ermordet oder in den Suizid getrieben wurde."
Resigniert hat Charlotte nie. Sie ist mutig und tapfer geblieben – und hartnäckig, sagt sie.