Vieles an der Schriftstellerin Sylvia Plath bleibt geradezu mythisch: Ihr Werk, ihre Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung, ihre Ehe, ihr Familienleben und nicht zuletzt ihr früher Tod.
Es ist ein Donnerstag, und an diesem Donnerstag setzt sich die 22-jährige Sylvia Plath, Noch-Nicht-Schriftstellerin, an ihre Schreibmaschine, spannt einen Bogen gelbes Papier ein. Es ist Bürobriefpapier, auf dem vorgedruckt ist: an, von, Datum, Betrifft. Und sie füllt aus: an – Phil, von – Syl, Datum: 4. Februar 1954, Betrifft: Das Leben im Allgemeinen.
Aber es geht gar nicht um das Leben im Allgemeinen, natürlich, es geht in diesem Brief um ein, um zwei Leben im ganz Besonderen, um das von Syl, Sylvia Plath, und das von Phil, Philip McCurdy, einem Jugendfreund, mit dem sie sich ein paar Tage zuvor wieder einmal getroffen hatte und sie waren intim gewesen. Und nun, an diesem Donnerstag, tippt sie: „Hallo ...“
![Die amerikanische Dichterin und Schriftstellerin Sylvia Plath (1932-1963) (Foto: IMAGO, IMAGO / GRANGER Historical Picture Archive) Die amerikanische Dichterin und Schriftstellerin Sylvia Plath (1932-1963)](/swrkultur/literatur/1738680276825%2Csylvia-plath-104~_v-16x9@2dS_-6be50a9c75559ca1aaf1d0b25bae287afdcd877a.jpg)
„Ich würde dich wirklich auch in Zukunft sehr gerne oft sehen“
Und nun schreibt sie, viele lange Zeilen lang, von ihrer neuen Bleibe in Harvard, wo sie gerade studiert, von dem Wochenende zuvor bei den Freunden, der Familie Crockett. Sie plaudert, als wenn es nichts Wichtigeres gibt als diese alltäglichen Kleinigkeiten. Sie schiebt, es ist bei der Lektüre zu spüren, sie schiebt die eigentliche Botschaft dieses Briefes vor sich her.
Bevor sie „In die wichtigeren persönlichen Themen eintauche“, da wolle sie noch – und dann, endlich, nach den vielen, wie sie selbst notiert, nach den „Nebensächlichkeiten“, kommt sie allmählich, zögerlich zum entscheidenden Punkt. Es ist ein Ende setzender, ein scheidender Punkt. Aber auch da zögert sie wieder, lockt: „Was unser Wiedersehen anbelangt, das brauchst du überhaupt nicht in Frage zu stellen“.
Er, Philip McCurdy, hatte es in dem Brief, der sie an diesem Donnerstagmorgen erreicht hatte, das Wiedersehen wohl in Frage gestellt gesehen. Er hatte vielleicht geahnt, was sie noch nicht ausgeschrieben, ausgesprochen hatte, und was sie nun irgendwann aussprechen, ausschreiben wird.
Aber zuvor: „Ich würde dich wirklich auch in Zukunft sehr gerne oft sehen“ – sie will es ihm, sie möchte es sich leicht machen. Ja, wir können uns sehen, schreibt sie ihm.
„Werden wir gute Freunde bleiben …“
Sie tastet sich an den Kern des Briefes: „Was unseren ziemlich einzigartigen Abend anbelangt“, beginnt sie und stolpert in bürokratischem Englisch auf ihr Ziel: „Unseren Kontakt in letzter Zeit könnte man als ‚platonisch‘ bezeichnen ... und unsere platonische Beziehung als solche ist in der Lage, so denke ich, ohne weitere emotionale und körperliche Verstrickung zu bestehen.“
Die Liebe, gemeinsame Sexuali-Taten, das bezeichnet Sylvia Plath als emotionale und körperliche Verstrickung. Und wenige Zeilen weiter fallen denn auch jene Worte, die der Leser oder die Leserin von heute erwarten: „Werden wir gute Freunde bleiben …“
„Körperlich können wir uns doch mit einer großen Anzahl anderer Männer und Frauen befriedigen“
Und: Sie bietet Phil eine intellektuelle und geistige Freundschaft. Zwei Jahre später wird Sylvia Plath in heftiger, auch körperlicher Liebe zum Schriftsteller Ted Hughes entbrennen. Sie wird mit ihm zwei Kinder haben. Sie wird verzweifeln, als sie sechs Jahre später entdecken muss, dass ihr Mann eine andere liebt und mit ihr intim ist. Sie verzweifelt, als er sich von ihr trennt und flüchtet sich in den Tod, indem sie Schlaftabletten schluckt und, sicher ist sicher, den Gashahn aufdreht.
Diese nach heftiger Liebe und erfüllter Sexualität dürstende Sylvia Plath lügt Philip McCurdy, ihrem Liebhaber, vor: „Körperlich können wir uns doch mit einer großen Anzahl anderer Männer und Frauen befriedigen“, also: Intim werden könne man mit jedem und jeder, aber, so mahnt Plath: „Eine intellektuelle und geistige Beziehung, wie wir sie gehabt haben, ist so selten und ist daher sehr viel wichtiger zu bewahren als alles andere.“
![Die amerikanische Dichterin und Schriftstellerin Sylvia Plath (1932-1963) mit ihrem Ehemann Ted Hughes (1930-1998) in den Flitterwochen 1956. (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance / Everett Collection | CSU Archives/Everett Collection) Die amerikanische Dichterin und Schriftstellerin Sylvia Plath (1932-1963) mit ihrem Ehemann Ted Hughes (1930-1998) in den Flitterwochen 1956.](/swrkultur/literatur/1738680280804%2Csylvia-plath-100~_v-16x9@2dS_-6be50a9c75559ca1aaf1d0b25bae287afdcd877a.jpg)
Ein Abschiedsbrief, der ein Ende setzen soll
Womit sie recht hat, auch wenn sie lügt. Und sie weiß, dass sie um die Wahrheit herumstolpert, denn wie endet dieser Brief: „Ich hoffe, dass meine Versuche, zu erklären, wie ich über unsere Situation denke, mindestens ansatzweise zusammenhängend waren …“
Sie lässt viel aus, diese Sylvia Plath, in diesem Brief, den sie am 4. Februar 1952 an Philip McCurdy schreibt. Ein Abschiedsbrief, der ein Ende setzen soll und doch nicht setzt, der nur leise grummeln soll und nicht donnern, und der doch das donnernde Ende bedeutet, an diesem Donnerstag, den 4. Februar 1954.
Buchkritik Sylvia Plath – Das Herz steht nicht still. Späte Gedichte
Die amerikanische Dichterin Sylvia Plath nahm sich mit nur zweiunddreißig Jahren das Leben. Nun sind unter dem Titel „Das Herz steht nicht still“ ihre späten Gedichte aus den Jahren1960 bis 1963 in der Übersetzung von Judith Zander erschienen.