Buchkritik

Volha Hapeyeva – Samota. Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber

Stand
Autor/in
Jörg Magenau

„Samota“ bedeutet im Belarussischen Stille oder Einsamkeit. Und so spielt der neue Roman von Volha Hapeyeva auch in einem mitten im Wald gelegenen Hotel. Doch geht es Hapeyeva um mehr: um die Frage, warum es so wenig Mitgefühl in den Menschen gibt und ob die Welt besser wäre, wenn es ein Empathie-Serum gäbe.

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Die Stille ist allgegenwärtig. Die Einsamkeit lauert überall. Im belarussischen Wort „Samota“ fließen beide Bedeutungen zusammen. „Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber“ heißt der neue und sehr leise Roman von Volha Hapeyeva im Untertitel. Im Mittelpunkt steht die Vulkan-Forscherin Maja.

Sie kommt zu Beginn in einem abgelegenen Hotel des Instituts für Vulkanologie an, das irgendwo im europäischen Norden liegen könnte. Doch die Orts- und Zeitbestimmungen bleiben unscharf. Der umliegende Wald mit Wölfen, die nahe Kleinstadt, die Bibliothek mit einem geheimnisvollen Japan-Buch – all das ergibt eher eine mythische Landschaft im Nirgendwo als eine bestimmbare Gegend.  

Die Ortlosigkeit des Exils 

Diese Ortlosigkeit ist womöglich Ausdruck der Exilsituation, in der die belarussische Lyrikerin und Übersetzerin Volha Hapeyeva lebt. Während der Proteste gegen Diktator Alexander Lukaschenko in Minsk im Jahr 2020 hielt sie sich in Graz auf und kehrte nicht in ihre Heimat zurück. Stipendien in München und Berlin folgten.

Dabei ist Hapeyeva keine dezidiert politische Autorin. Doch gerade ihr unaufdringlicher Ton, das Lob der Einsamkeit und die Verwunderung darüber, dass der Mensch allzu oft stumpf und mitleidlos agiert, machten sie zur Außenseiterin in einer kollektivistischen Gesellschaft – so wie Literatur generell das Misstrauen der Diktatoren dieser Welt hervorruft.  

In der Bibliothek war es gemütlich und still. Manchmal suche ich solche Orte auf, um bei den Büchern zu sein, diesen schweigenden Gelehrten, die mich immer gern daran erinnern, was es auf der Welt doch alles gibt und was die Menschen nicht alles erinnern und erforschen.  

Der Kongress der Tierpräparatoren 

Den Büchern ist mehr zu trauen als den Menschen. Eher abstoßend wirkt zum Beispiel die seltsame Männerrunde, die sich im Hotel der Ich-Erzählerin versammelt. Wie sich herausstellt, handelt es sich um Tierpräparatoren, die einen Kongress zur „Regulation von Tierpopulationen“ besuchen und dem Vortrag einer gefühlskalten japanischen Expertin lauschen.

Sie stehen exemplarisch für eine Menschheit, die Lebewesen zu Objekten degradiert und ihren Zwecken unterwirft. Den Gegenpol dazu bildet die Tiertherapeutin Helga-Maria, eine Freundin Majas. Sie behandelt Angststörungen bei Hunden, erzählt Geschichten von weggelaufenen Hunden und Katzen und bekommt Liebesbriefe von einem jungen Mann namens Sebastian.

Der wohnt in einer Pension und muss sich dort mit dem Wolfsjäger Meszaros auseinandersetzen, einer Figur, die in ihrer Grobschlächtigkeit einem finsteren Märchen zu entstammen scheint. Sebastian fragt sich: 

Waren die Charakterzüge die Folge einer bestimmten Lebensweise oder waren sie angeboren, so dass der Mensch von Beginn an weder Freude noch Leid empfinden konnte und Mitgefühl für andere gänzlich fehlte. 

Der poetische Gegenentwurf zu einer zweckbestimmten Ökonomie 

Das Böse besteht für Volha Hapeyeva im Mangel an Empathie, wie es sich vor allem im Umgang mit Tieren ausdrückt. Gegenstand ihrer Kritik ist aber nicht nur das ausbeuterische Verhältnis der Menschen zur Natur, sondern auch eine Wissenschaft, die „keine Individualität duldet“, weil sie das Leben „maximal vereinheitlicht“ und „von Emotionen befreit“.

Das ist zwar durchaus richtig, aber auch ein wenig schlicht. Hapeyeva legt eben keine gesellschaftliche Analyse vor, sondern einen poetischen Gegenentwurf zur zweckbestimmten Ökonomie. Auch deshalb ist ihr Roman in einem mythischen Nirgendwo angesiedelt. Sie bringt darin ein zivilisatorisches Unwohlsein zum Ausdruck, erprobt aber noch nicht einmal ansatzweise Antworten auf die doch drängende Frage, woher Gewaltbereitschaft und Mitleidslosigkeit kommen.

Das Empathie-Serum, das die leicht verrückte Helga-Maria entwickeln möchte, um die Menschen damit zu imprägnieren, ist zwar eine hübsche Idee, wird aber wohl kaum die Lösung sein.  

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