Schon in der Exposition des Romans deutet Tarjei Vesaas an, dass alles, was folgt, keine Idylle sein wird. Ausgerechnet mit einer Szene aus einem Schweinestall beginnt „Der Keim“: Eine Sau hat geferkelt; die neu geborenen Tiere liegen rosig und anmutig bei ihrer Mutter, doch werden sie beobachtet von einem alten Eber, der in einem eigens für ihn gebauten Koben liegt; eingesperrt in hoffnungslose Ödnis, wie es heißt.
So bekommt die ländliche Ruhe etwas Bedrohliches. Es ist eine geschickte Kameratechnik, mit deren Hilfe Vesaas den Schauplatz seines Romans einführt. Er zoomt sich zunächst nah an die Details heran, um dann die Linse aufzuziehen, weiter und weiter; erst den Stall, dann die Scheune, den gesamten Bauernhof und schließlich die norwegische Insel in den Blick nimmt. Ein auf natürliche Weise begrenztes, überschaubares Terrain, das wie geschaffen ist für eine als Parabel angelegte Erzählung.
In den Ferien zurück auf die norwegische Insel
Aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet Vesaas einige der Bewohner, allen voran den Bauern Karl, seine Frau Mari und deren Kinder Inga und Rolv. Rolv, der ältere der beiden Geschwister, hat die Insel verlassen, um eine höhere Schule zu besuchen.
In den Ferien kommt er, so wie jetzt auch, zurück auf den elterlichen Hof, um bei der Arbeit zu helfen. Dass er sich mit einem Mädchen namens Else zusammengetan hat, nährt die Hoffnung der Eltern, dass Rolv bald endgültig nach Hause zurückkehren könnte.
Wie ein Geist streift Andreas Vest über die Insel
Die Katastrophe, die im Zentrum dieses faszinierenden Romans steht, wird ausgelöst durch einen Neuankömmling. Andreas Vest, so heißt der Mann, landet auf der Insel, um nach einem traumatischen Erlebnis seinen Seelenfrieden wiederzufinden. Er war Zeuge einer gewaltigen Explosion in einer Fabrik, die etlichen seiner Kollegen das Leben kostete.
Doch Vest kommt nicht zu sich. Wie ein Geist streift er durch das Gelände, schreckt mal hier, mal dort Menschen auf – bis er wie aus dem Nichts heraus die junge Inga tötet. In einer Hetzjagd spürt die Inselbevölkerung Andreas Vest auf, und es ist Ingas Bruder Rolv, der seine Schwester in einem Anfall von Raserei rächt.
Wie kann eine zivilisierte Gemeinschaft auf einen Mord reagieren?
„Der Keim“ besteht aus zwei in etwa gleich langen Teilen: Der erste ist eine fein formulierte, von wunderbaren Detailbeobachtungen durchzogene psychologische Erzählung, die die Beziehungen der Inselbewohner untereinander darstellt und auch einen kritischen Blick auf die Rollenbilder der Zeit wirft.
Der zweite Teil ist eine philosophische Reflexion über Schuld, Sühne und mögliche Heilung. Der unerklärliche Mord an Inga durch einen Außenseiter erschüttert die Gemeinschaft weniger als der brutale Racheakt, ausgeführt durch einen von ihnen, doch vor den Augen aller. Haben diejenigen, die zugesehen haben, eine Mitverantwortung? Lässt sich ein Unrecht durch ein anderes Unrecht sühnen? Und ist der Bruch eines in sich funktionierenden Gefüges wie das der Inselgemeinschaft zu kitten?
Letztendlich verhandelt Vesaas auf unaufdringliche Weise die Frage, wie eine zivilisierte Gesellschaft mit einem unzivilisierten Akt umgehen kann.
Der Schriftsteller Michael Kumpfmüller deutet den 1940 erschienenen Roman in seinem Nachwort als eine Parabel auf die Besatzung Norwegens durch das nationalsozialistische Deutschland. Das ist plausibel. „Der Keim“ ruft aber während der Lektüre auch automatisch Erinnerungen auf an den Amoklauf auf der norwegischen Insel Utøya durch den Rechtsextremisten Anders Breivik im Jahr 2011.
Und an den geradezu beneidenswert affektfreien Umgang in Norwegen mit diesem bestürzenden Ereignis – das Gegenstück zu Vesaas Roman. Die Sehnsucht nach einer profunden, natürlichen Humanität spricht aus diesem Buch. Eine Humanität, die auch die gefallenen und gewaltvoll handelnden Charaktere einschließt, ohne sie zu entschuldigen. „Der Keim“ ist ein weiterer Beweis für die Größe des Autors Tarjei Vesaas.