Der Soziologe Steffen Mau analysiert, warum der Osten anders tickt. In seinem faktenreichen Buch schaut er auf DDR-Prägungen und die sozialen Narben der Transformation, auf Sozialstrukturen und kulturelle Mentalitäten. Eine im besten Sinne aufklärerische Analyse.
Dass der Osten und der Westen Deutschlands zusammenwachsen, weil sie zusammengehören, das glaubte nach dem Mauerfall nicht nur Willy Brandt. Ganz unrecht hatte der frühere Bundeskanzler sicher nicht. In vielerlei Hinsicht hat der Osten zum Westen aufgeschlossen.
Der Aufbau Ost war ein Nachbau West
Aber es gibt auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung gravierende Unterschiede und Irritationen. Der Soziologe Steffen Mau spricht von einer „andauernden Zweiheit in der Einheit“. Aber warum ist das so?
Scharfe, aber trotzdem sachliche und ausgewogene Analyse
Der Aufbau Ost war ein Nachbau West, fasst Steffen Mau die Entwicklung nach der Wiedervereinigung pointiert zusammen. Der Osten sei nicht in seiner Eigenheit begriffen worden, sondern nur als Abweichung. Es gibt viele solch einprägsamer Sätze in dem souveränen Buch. Steffen Maus Analyse ist scharf, aber nicht polemisch.
Der Ton ist bei aller spürbaren Dringlichkeit angenehm sachlich und ausgewogen. Mau setzt sich dabei auch mit den Bestsellern von Dirk Oschmann und Katja Hoyer auseinander und zugleich deutlich von diesen ab. Er sieht sie als „Mentalpflegetexte“, die die Leser nicht fordern, sondern nur in ihren Alltagsgefühlen bestätigen.
Der Soziologe widmet sich ausführlich Aspekten der politischen Kultur und kultureller Mentalitäten. Er schaut aber auch auf Sozialstrukturen und demografische Entwicklungen.
Eigenes Demokratieverständnis im Osten
Als demokratieverdrossen sieht Mau die Ostdeutschen nicht. Vielmehr habe sich in Wendezeiten ein anderes Demokratieverständnis herausgebildet. Während die etablierten politischen Parteien im Osten bis heute kaum verwurzelt seien, spiele die Straße eine wichtige Rolle, um Frust abzulassen und sich politisch zu artikulieren.
Ich glaube, in Ostdeutschland gibt es so ein Demokratieideal, das an so eine Idee des Volkes Wille anhängt. Dass man das Gefühl hat, man will so unmittelbar seine Interessen vertreten. Das funktioniert in einer parlamentarischen Demokratie, in einer Parteiendemokratie nicht besonders gut.
Weil die stark regelgebunden ist, weil es da langwierige Verfahren gibt, Abstimmung, Kompromissfindung. Das bringt viele Ostdeutsche auf die Straße, die denken dann, jetzt muss die Politik das machen, was wir sagen, weil wir Forderungen aufstellen.
Der Autor belässt es nicht bei der Diagnose. Der Vormarsch der AfD zwinge geradezu dazu, über eine Frischluftzufuhr für die Demokratie nachzudenken. Steffen Mau empfiehlt, sogenannte Bürgerräte zu etablieren. Der Soziologe meint damit per Losverfahren ausgewählte Gremien, die sich über politische Sachthemen austauschen und versuchen, Kompromisse zu finden.
Gerade weil die Not im Osten groß ist, könnte hier auch das Rettende wachsen, hofft der Autor. Steffen Mau betrachtet den Osten als „Labor der Demokratie“, in dem „alternative Formen der Partizipation“ erprobt werden.
Solche Modelle in den Westen zu übertragen, könnte ein später Beitrag der Ostdeutschen dazu sein, die Demokratie weiterzuentwickeln. Darin mag viel Wunschdenken stecken. Doch nachdenkenswert sind Ideen, wie sich der Radikalisierung der Gesellschaft entgegenwirken lässt, allemal.
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