Warschau 1970: Ein Bild geht um die Welt
Warschau, 7. Dezember 1970. Ein Bild geht um die Welt. Am Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos sinkt Willy Brandt plötzlich in die Knie. Dann verharrt der deutsche Bundeskanzler – die Hände vor dem Bauch gefaltet, den Blick gesenkt. Ein Augenblick, in dem viele Beobachter den Atem anhalten. Denn der Kniefall von Warschau gilt als ein früher Meilenstein auf dem Weg zur deutschen Wiedervereinigung und als ikonische Verkörperung von Brandts Politik des "Wandels durch Annäherung": Um Vergebung bitten, ohne Stärke zu demonstrieren.
50 Jahre später, im Jahr 2020, ist das "Prinzip Abschreckung" in die Weltpolitik zurückgekehrt. Die US-Politik scheint unberechenbar, Russland agiert aggressiv, China steigt zur Großmacht auf. Regionale Konflikte drohen zu eskalieren, Extremismus und Terrorismus machen Schlagzeilen. Hacker-Attacken, ein Mord im Berliner Tiergarten und der versuchte Giftmord an dem Kreml-Kritiker Alexej Nawalny belasten das russisch-deutsche Verhältnis – von Krim-Annexion und Ostukraine-Krieg ganz zu schweigen.
Deutschland verhält sich ambivalent gegenüber Russland
Muss Deutschland im Jahr 2020 eingestehen, mit seiner Russlandpolitik gescheitert zu sein? Sind Modernisierungspartnerschaften und Gemeinschaftsprojekte nicht sogar gefährlich kontraproduktiv, wenn sie damit ein Regime stützen, das zunehmend autoritär und aggressiv auftritt? Dr. Susan Stewart stellt solche Fragen schon seit vielen Jahren. Als Russland-Expertin in der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik berät die US-Amerikanerin die Bundesregierung.
Immer wieder beobachtet Stewart eine ambivalente Haltung, die die deutsche Politik gegenüber Russland kennzeichnet. Die führt sie nicht zuletzt auf das Erbe von Willy Brandts Ostpolitik zurück. Nach Krim-Annexion, Militärunterstützung für das Regime in Syrien, Hacker-Attacken auf den Bundestag, nach Morden und Mordanschlägen auf Oppositionelle ist sich die US-Politologin sicher: Der altgediente Ansatz "Wandel durch Annäherung" ist in einem Russland unter Putin aussichtslos.
Ein Beispiel für die verfehlte deutsche Annäherungspolitik sei die Nord-Stream-Pipeline, an der die Bundesregierung trotz vehementer internationaler Kritik bis heute festhält. Allerdings registriert Susan Stewart ein Umdenken, seit Russland die Krim annektiert hält und mit seiner Militärunterstützung die Kampfhandlungen in der Ostukraine immer neu anheizt.
Neues nukleares Wettrüsten im Jahr 2020
Deutschland unterstützt seither ausdrücklich die Sanktionspolitik der Europäischen Union. Außerdem ist die Bundeswehr seit Anfang 2017 an einer NATO-Mission beteiligt, die Russland von einem Überfall auf Polen oder die Staaten des Baltikums abschrecken soll. Schließlich weisen die östlichen EU-Mitgliedstaaten seit Jahren vehement auf die Gefahr hin, dass Russland in ihr Territorium einrücken könnte. Die Politologin Susan Stewart ist froh, dass sie damit endlich Gehör gefunden haben.
Doch im Sommer 2020 spricht das Stockholmer Institut SIPRI in seinem aktuellen "Jahrbuch der Rüstung" vom "neuen nuklearen Wettrüsten". Insgesamt neun Atommächte verfügten derzeit über geschätzte 13.400 Atomsprengköpfe. Die USA und Russland hätten umfassende und teure Programme in Angriff genommen, um ihre nuklearen Arsenale und die entsprechenden Raketen- und Luftwaffen-Kapazitäten zu modernisieren.
Deutschland muss den Ost-West-Dialog verantwortungsvoll moderieren
Auch der Friedensforscher Wolfgang Zellner, der die sicherheitspolitischen Entwicklungen seit den 1980er-Jahren verfolgt, ist über die aktuelle Lage der Weltpolitik beunruhigt. Denn heute gibt es zwischen den USA und Russland keine Abkommen mehr, die die Zahl der Abschussvorrichtungen für Interkontinentalraketen begrenzen oder landgestützte Mittelstreckenwaffen verbieten. Nachfolgeregelungen sind nicht in Sicht. Die Gefahr, dass Raketen oder Drohnengeschwader auf die Reise geschickt werden, liegt nicht so fern wie es vielen scheint, fürchtet Wolfgang Zellner.
Anders als für Russland-Expertin Susan Stewart von der Stiftung Wissenschaft und Politik steht für Friedensforscher Wolfgang Zellner fest, dass an einem Neustart der NATO-Russland-Beziehungen kein Weg vorbeiführt. Und Deutschland, das mit Frankreich die lauteste Stimme in der Europäischen Union hat, komme in der Moderation des Ost-West-Dialogs eine besondere Rolle zu – Nawalny-Giftanschlag, Tiergartenmord und Hacker-Attacken zum Trotz.
Letzter Atom-Abrüstungsvertrag zwischen Russland und USA läuft 2021 aus
Der Vorschlag des Friedensforschers Wolfgang Zellner: Ein neues NATO-Russland-Abkommen zur Verhütung militärischer Zwischenfälle. Nicht nur aus Gründen der Gefahrenabwehr sei das dringend geboten. Es könnte der Anfang von neuen turnusmäßigen gegenseitigen Kontrollen sein – mit Waffeninspekteuren, die verloren gegangenes Vertrauen allein schon durch ihre Arbeitsroutine stärken. Es ist ein Vorschlag wie aus dem ostpolitischen Werkzeugkasten des Willy Brandt: ein pragmatischer erster Schritt, der erst zu Stabilität und dann zu Entspannung führen könnte.
Am 5. Februar 2021 wird der letzte verbliebene atomare Abrüstungsvertrag zwischen Russland und den USA auslaufen: "New Start". Die Verhandlungen über eine Verlängerung stocken seit langem, denn die US-Regierung besteht auf einem Beitritt Chinas; Peking aber lehnt das ab. Doch unerwartet, im Oktober, ist Bewegung in die Diskussion gekommen: ein Angebot aus Moskau. Russland werde die Zahl seiner Atomsprengköpfe auf den gegenwärtigen Stand begrenzen, sofern die USA dasselbe täten. So sei es möglich, das New-Start-Abkommen zu verlängern, teilte das russische Außenministerium mit. Zunächst einmal für ein Jahr und ohne jede Vorbedingung.
Besteht 50 Jahre nach dem Kniefall von Willy Brandt in Warschau doch noch eine zarte Hoffnung auf Annäherung zwischen Ost und West?