SWR2 Literaturredakteurin Katharina Borchardt über die Gewinner des Leipziger Buchpreises
Die Buchmesse muss als kommunikatver Ort erhalten bleiben
Auch wenn die Messe bereits zum dritten Mal abgesagt wurde, so fand die Preisverleihung ganz traditionell in der gläsernen Messehalle statt. Das Hintergrundrauschen des Messebetriebs fehlte in diesem Jahr, doch darf die Preisverleihung als Statement dafür gelesen werden, dass die Messe als kommunikativer Ort nicht verloren gegeben wird.
Dazu passend stehen Austausch und Gespräch auch in den drei ausgezeichneten Büchern auf außergewöhnliche Weise zentral. Denn sie befinden sich in vielfältigem Austausch mit anderen Texten und Ideen.
Tomer Gardis Roman ist ein literarisches Experiment zwischen Märchenadaption und historischem Roman
Tomer Gardis zweiteiliger Roman „Eine runde Sache“ erzählt in gebrochenem Deutsch ein finsteres Märchen aus dem deutschen Hexen-Wald. Darin wird ein fiktiver Tomer Gardi gejagt. In einem zweiten – aus dem Hebräischen übersetzten – Romanteil begleiten wir anschließend den javanischen Maler Raden Saleh durch seine deutsche Quasi-Leibeigenschaft im Grimmschen 19. Jahrhundert. Ein literarisches Experiment zwischen Märchenadaption und historischem Roman, zwischen broken German und hebräischer Übersetzung. Sowas kann nur Tomer Gardi.
Uljana Wolfs Essaysammlung „Etymologischer Gossip“ hätte in allen drei Kategorien nominiert werden können
Von Uljana Wolfs Essaysammlung „Etymologischer Gossip“ hieß es in der Laudatio zurecht, sie hätte eigentlich in allen drei Kategorien nominiert werden können. Auch dies also eine stilistische Grenzüberschreitung: autobiographische Erkundung, sprachliche Analyse und übersetzerische Reflexion. Dabei stehen Wolfs so spielerische wie geistreiche Texte in innigem Austausch mit Autorinnen wie Ilse Aichinger und Theresa Hak Kyung Cha, sind also in höchstem Maße kommunikativ.
Im Roman „Nevermore“ schreibt die Autorin Cécile Wajsbrots über das Übersetzen - und wird von Anne Weber übersetzt
Dasselbe gilt für Cécile Wajsbrots Roman „Nevermore“, in dem eine französische Übersetzerin nach Dresden zieht, um Virginia Wolfs Roman „To the Lighthouse“ zu übertragen. Hier schreibt also Wajsbrot als Autorin und Übersetzerin über das Übersetzen selbst, was wiederum von der Autorin Anne Weber hervorragend ins Deutsche übertragen wurde und die dafür in Leipzig sehr zurecht geehrt wurde.
Man merkt: Mit diesen drei Büchern hat sich die Jury des „Preises der Leipziger Buchmesse 2022“ gegen ein literarisches Potpourri entschieden. Sie hat drei AutorInnen ausgezeichnet, die grenzüberschreitend und dialoghaft arbeiten, was nicht nur stilistisch und intellektuell beglückend ist, sondern auch ethisch gelesen werden kann.
Tomer Gardi gewinnt den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik
Begründung der Jury
Unverschämt, dieser Tomer Gardi. Den ersten Teil seines Romans erzählt er nicht in astreinem Deutsch, sondern in einer Kunstsprache mit eigenartiger Rechtschreibung und merkwürdigem Satzbau. Broken German. Es gibt einen zweiten Teil, oder besser: Es gibt den Roman doppelt. Jetzt hat Tomer Gardi ihn auf Hebräisch geschrieben. Anne Birkenhauer hat ihn ins Deutsche übersetzt.
„Eine runde Sache“ ist ein Schelmenstück. Wirklichkeit und Fiktion prallen darin aufeinander wie das Echte und das Gemachte. Dabei spielt Gardi ebenso kunstvoll wie dreist mit Lesegewohnheiten und Erwartungen an einen Roman, zumal an einen deutschsprachigen. „(...) ein Schriftsteller ist jemand, der Schwierigkeiten hat mit die deutsche Sprache“, schreibt er und hinterfragt unser Bedürfnis nach Korrektheit und Geradlinigkeit ebenso wie ästhetische Normen. Dahinter lauert die bittere Frage, wie es einem Menschen überhaupt gelingen kann, seine eigene Sprache zu finden.
Kurzum: „Eine runde Sache“ ist ein großzügiger Roman von hoher sprachlicher Präzision.
In der Kategorie Belletristik waren nominiert
- Dietmar Dath: "Gentzen oder: Betrunken aufräumen. Kalkülroman" (Matthes & Seitz Berlin)
- Tomer Gardi: "Eine runde Sache". Zur Hälfte übersetzt aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer (Literaturverlag Droschl)
- Heike Geißler: "Die Woche" (Suhrkamp Verlag)
- Emine Sevgi Özdamar: "Ein von Schatten begrenzter Raum" (Suhrkamp Verlag)
- Katerina Poladjan: "Zukunftsmusik" (S. Fischer Verlag)
Kategorie Sachbuch/Essayistik
Den Preis der Kategorie Sachbuch/Essayistik erhält Uljana Wolf: "Etymologischer Gossip: Essays und Reden" (kookbooks Verlag).
Nominiert waren
- Horst Bredekamp: "Michelangelo" (Verlag Klaus Wagenbach)
- Hadija Haruna-Oelker: "Die Schönheit der Differenz: Miteinander anders denken" (btb Verlag)
- Christiane Hoffmann: "Alles was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters" (Verlag C.H.Beck)
- Juliane Rebentisch: "Der Streit um Pluralität: Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt" (Suhrkamp Verlag)
- Uljana Wolf: "Etymologischer Gossip: Essays und Reden" (kookbooks Verlag)
Kategorie Übersetzung
In der Kategorie Übersetzung gewinnt Anne Weber. Sie übersetzte aus dem Französischen: "Nevermore" von Cécile Wajsbrot (Wallstein Verlag).
Nominiert waren
- Irmela Hijiya-Kirschnereit übersetzte aus dem Japanischen: "Dornauszieher. Der fabelhafte Jizō von Sugamo" von Hiromi Itō (Matthes & Seitz Berlin)
- Stefan Moster übersetzte aus dem Finnischen: "Im Saal von Alastalo. Eine Schilderung aus den Schären" von Volter Kilpi (mareverlag)
- Andreas Tretner übersetzte aus dem Russischen: "Wunderkind Erjan" von Hamid Ismailov (Friedenauer Presse)
- Helga van Beuningen übersetzte aus dem Niederländischen: "Mein kleines Prachttier" von Marieke Lucas Rijneveld (Suhrkamp Verlag)
- Anne Weber übersetzte aus dem Französischen: "Nevermore" von Cécile Wajsbrot (Wallstein Verlag)
Die Jury für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022
- Insa Wilke (Juryvorsitz)
- Moritz Baßler
- Anne-Dore Krohn
- Andreas Platthaus
- Miryam Schellbach
- Shirin Sojitrawalla
- Katharina Teutsch