Die britische Journalistin Olivia Laing ist Mitte dreißig, als sie ihr Leben in England aufgibt, um mit einem Mann in New York zu leben. Kaum ist sie angekommen, beendet der Mann die Beziehung, und Olivia findet sich allein in einer Metropole wieder, in der sie niemanden kennt. Sie lebt in schäbigen Zimmern, streift durch die Stadt, fühlt sich abwechselnd unsichtbar und kritischen Blicken ausgesetzt. Olivia Laing tut das Klügste, was sie in ihrer Situation tun kann: Sie vertieft sich in die Zeugnisse von zahlreichen Großstadt-Künstlern, in deren Werk und Leben sie ein Echo ihrer eigenen Einsamkeit findet.
Natürlich fällt einem sofort Edward Hopper ein, dessen Bilder geradezu ein Synonym für urbane Einsamkeit sind. Aber Olivia Laing widmet ihm nur ein kurzes Kapitel. Ihr Interesse gilt den extremen Außenseitern des Kunstbetriebs. In Bibliotheken studiert sie das Werk des Fotografen, Filmemachers und Musikers David Wojnarowicz. Berühmt wurde er mit seiner Fotoserie „Rimbaud in New York“, in dem ein Mann mit einer Maske, die das Gesicht des Dichters Rimbaud zeigt, distanziert das Treiben in den Elendsvierteln betrachtet.
Wojnarowicz hatte so grauenhafte Gewalterfahrungen hinter sich, dass er mit niemandem darüber sprechen konnte. Das Gefühl, sich selbst entfremdet zu sein, drückte er im Symbol der Maske aus: Sehen, aber nicht gesehen werden zu können als der, der man ist.
Die Erfahrung dieser Art Isolation hat auch Andy Warhol gemacht, der in slowakischen Elendsvierteln von Pittsburgh aufwuchs und in der Schule gemobbt wurde. In seinem Werk, das die Trennung zwischen ernsthafter und Unterhaltungskunst aufhebt, erkennt Laing den Wunsch, die Einsamkeit des ausgeschlossenen Kindes zu überwinden und in die Gesellschaft aufgenommen zu werden. Es gelang ihm nicht; Warhol blieb einsam, obwohl sich zahllose Leute in seinen Ateliers breit machten, und 1964 erklärte er, er habe seinen Kassetten-Recorder geheiratet.
Einsamkeit, schreibt Laing, entsteht im Wechselspiel zwischen Gesellschaft und Individuum. Die Menschen gehen denen, die anders sind als die Norm, aus dem Weg oder erklären sie für geisteskrank. Das passierte Henry Darger, der in eine Anstalt für „geistesschwache Kinder“ eingeliefert wurde, wo Schläge und Vergewaltigungen an der Tagesordnung waren.
Später war er Hausmeister in diversen Kliniken. Als er zum Sterben ins Heim eingeliefert wurde, erwies sich das Gerümpel in seinem Zimmer als Kunst: Man fand über dreihundert Gemälde und über zehntausend Seiten Prosa. Die Bilder zeigen märchenhafte Szenen, aber gleichzeitig brutalste sexuelle Gewalt an kleinen Mädchen.
Einsamkeit muss nicht Alleinsein bedeuten, schreibt Laing, sondern ist der Mangel an Nähe und Intimität. Ihre eigene Geschichte des Verlassen Seins nimmt wenig Raum ein in dem Buch. Und doch ist es Olivia Laing, die das Bild ultimativer Einsamkeit liefert: In ihrem schäbigen Zimmer am Times Square sitzt sie um drei Uhr nachts im flackernden Licht der Neonreklamen von gegenüber, verschlingt auf Twitter die Nachrichten von Leuten, die sie nicht kennt, und scrollt sich durch Dating-Portale.
Die Auswahl der Künstler ist sehr persönlich und erklärt sich aus ihrer damaligen Situation. Sie wollte sich betäuben und den eigenen Schmerz mit den Gewalterfahrungen anderer überdecken. Olivia Laing erzählt ungemein lebendig, und die Schilderungen der Lebensgeschichten und Kunstwerke sind ziemlich drastisch. Und doch ist dies ein geradezu zärtliches Buch – eine Hommage an alle Außenseiter in der Kunst, die von einer ebenso Einsamen gewürdigt und sichtbar gemacht werden.
Aus dem Englischen von Thomas Mohr
btb Verlag, 416 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-442-76232-3