SWR2 lesenswert Kritik

Marie Vieux-Chauvet – Der Tanz auf dem Vulkan

Stand
Autor/in
Dina Netz

Die Kolonie Saint-Domingue Ende des 18. Jahrhunderts: Die Schwestern Minette und Lise wachsen in Port-au-Prince auf, heute die Hauptstadt Haitis. Die beiden haben schöne Stimmen. Doch sie sind Töchter einer freigelassenen Sklavin, und so grenzt es an ein Wunder, dass sie am Theater auftreten dürfen.

Marie Vieux-Chauvet (1916-1973) erzählt, mit Fokus auf der Karriere der älteren Schwester Minette, von den zunehmenden sozialen Spannungen in der französischen Kolonie, die schließlich in die Revolution von 1804 münden. Sie zeichnet ein authentisches Bild einer Gesellschaft unter extremer sozialer Spannung.

Minette und Lise wachsen Ende des 18. Jahrhunderts in Port-au-Prince auf – damals die Hauptstadt der französischen Kolonie Saint-Domingue, heute Haiti. Die Mädchen sind Töchter einer freigelassenen Schwarzen Sklavin und ihres früheren Besitzers. Minette und Lise sind also „Mulattinnen", wie es bei Marie Vieux-Chauvet ganz bewusst heißt. Sie hat den pejorativen Begriff, wie auch die Übersetzerin Nathalie Lemmens, beibehalten, weil er die herablassende Haltung der weißen Oberschicht spiegelt.

Für die beiden farbigen Mädchen bieten sich im damaligen Port-au-Prince nicht viele Optionen. Sie können Straßenverkäuferinnen werden wie ihre Mutter, betteln oder sich prostituieren. Doch die Schwestern verfügen über ein Talent, das ihnen andere Möglichkeiten eröffnet: Sie sind außergewöhnlich gute Sängerinnen, in ihrem Viertel nennt man sie „die kleinen Nachtigallen".

Eine weiße Nachbarin, die am Theater von Port-au-Prince arbeitet, entdeckt ihr Talent. Sie schleust Minette, die ältere, in die Theatergruppe ein, die sich entschließt, das Risiko einzugehen, eine Schwarze auf die Bühne zu bringen – und dann auch noch in der Hauptrolle! Das gewagte Kalkül geht auf, das Publikum von Port-au-Prince liegt Minette zu Füßen. Während ihrer gesamten Karriere werden sich die weißen Bewunderer jedoch nicht die Mühe machen, sich ihren Namen zu merken - Minette bleibt auf der Bühne immer „die junge Person".

Nicht nur daran wird deutlich, dass Minette kein vollwertiges Mitglied des Ensembles ist: Auch eine Gage ist für sie nicht vorgesehen. Doch sie ist selbstbewusst und  willensstark – sie boxt eine Gage für sich durch. Dem ihr zustehenden Geld wird sie allerdings wiederum lange hinterherlaufen müssen.

Die Demütigungen, die sie am Theater erlebt, schärfen Minettes soziales Bewusstsein. Zeitgleich übernimmt ein junger Schwarzer, Joseph, die schulische Bildung der Mädchen und versorgt sie mit den entsprechenden Lektüren, zum Beispiel vom Aufklärer Jean-Jacques Rousseau. Nicht nur in Minette brodelt es stärker, je deutlicher sie die sozialen Ungerechtigkeiten wahrnimmt. Auch die Schwarze Bevölkerung von Saint-Domingue begehrt immer entschiedener auf, denn der „code noir", der zumindest den freien Schwarzen die gleichen Rechte wie den Weißen einräumt, gilt bloß auf dem Papier. Tatsächlich ist ihr Alltag von Gewalt und Unterdrückung geprägt. Das Leben mit diesen extremen sozialen Spannungen ist der titelgebende „Tanz auf dem Vulkan", der ganz logisch in den Vulkanausbruch mündet: in die Revolution von 1804, auf die die Unabhängigkeit Haitis folgte und das Ende der Sklaverei.

Interessanterweise erzählt Marie Vieux-Chauvet auch von armen, sozial deklassierten Weißen und reichen Schwarzen Grundbesitzern. Mit dieser Differenzierung wagte Vieux-Chauvet die im Erscheinungsjahr 1957 noch nicht sehr verbreitete These, dass nicht nur die ethnische Herkunft, sondern auch Klasse und Stand über die Lebensbedingungen entscheiden. Diese Darstellung durften die haitianischen Herrschenden der 50er, die die „mulattische Bevölkerung" unterdrückten, durchaus als Kritik an ihrer patriarchal-rassistischen Politik verstehen – einer der Gründe, warum Marie Vieux-Chauvet ins US-amerikanische Exil gehen musste. Unter anderem in dieser komplexen Sicht auf soziale Verhältnisse, die ihrer Zeit voraus war, zeigt sich die Modernität ihrer Romane.

Die Autorin braucht viel Personal, um die Gesellschaft von Saint-Domingue in verschiedenen Facetten zu beschreiben. Trotz der Vielzahl an Figuren bleibt man beim Lesen immer orientiert, denn Vieux-Chauvet zeichnet die Charaktere plastisch und detailgenau. Die Erzählstimme schwenkt immer wieder zu anderen Figuren und schaltet sich zwischendurch selbst ein, so dass ein nuanciertes, authentisches Bild der Gesellschaft von Saint-Domingue Ende des 18. Jahrhunderts entsteht. Die Figuren erhalten alle ihre eigene Diktion, viele kreolische Begriffe hat Nathalie Lemmens auch in der deutschen Übersetzung beibehalten. Auch dieser innovative Stil machte Marie Vieux-Chauvet in den 50er Jahren zur Wegbereiterin des modernen Romans in Haiti. Wie gut und wichtig, dass der Manesse Verlag ihr Werk nun endlich auf Deutsch zugänglich macht!

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Dina Netz