SWR2 lesenswert Kritik

Hugo Hamilton – Echos der Vergangenheit

Stand
Autor/in
Oliver Pfohlmann

Hugo Hamiltons „Echos der Vergangenheit" hat einen ungewöhnlichen Erzähler: Es ist die Erstausgabe eines Joseph-Roth-Romans. Hier spricht ein Buch höchstselbst! Es erzählt von Verfolgung und Holocaust und dem Versuch einer amerikanischen Künstlerin ein Jahrhundert später, das Geheimnis einer vergessenen Liebe zu lüften.

Der Ich-Erzähler in Hugo Hamiltons neuem Roman muss so einiges über sich ergehen lassen: Schon in seiner Jugend wäre er von den Nazis um ein Haar verbrannt worden. Dann musste er sich jahrelang verstecken lassen, einmal sogar im Inneren einer „Effi Briest“-Ausgabe. Später dann wird er gestohlen, weggeworfen und neben einer Mülltonne von einer Ratte angepinkelt. Er wird von einem Neo-Nazi verstümmelt und mit einem Hakenkreuz beschmiert, schließlich sogar von einer Kugel durchlöchert. Am Ende landet er als Ausstellungsstück in einer Kunstgalerie.

Wie das möglich ist? Ganz einfach: Der Ich-Erzähler von Hugo Hamiltons Roman „Echos der Vergangenheit“ ist kein Mensch, sondern ein Buch, genauer: Er ist eine Erstausgabe von „Die Rebellion“, einem heute weitgehend vergessenen Joseph-Roth-Roman aus den zwanziger Jahren. Wer dieses Frühwerk des späteren Autors von „Radetzkymarsch“ nicht kennt, erhält von Hamiltons Ich-Erzähler eine Zusammenfassung. Kurz gesagt: In „Die Rebellion“ erzählte der österreichisch-jüdische Autor vom traurigen Schicksal eines Weltkriegsveteranen, der sich in der Zwischenkriegszeit als einbeiniger Leierkastenmann durchschlagen muss.

Ein Buch als Erzähler seines eigenen Schicksals, das ist zumindest originell. Dass diese spezielle Ausgabe nicht einfach in einer Bibliothek vor sich hin verstaubt, vermag Hamilton gut zu erklären: In der NS-Zeit gehörte Joseph Roth zu den verbotenen Autoren, deren Werke der Bücherverbrennung anheimfielen und daher von ihren Lesern und Leserinnen versteckt werden mussten. In der Gegenwart nun reist das Buch in der Handtasche einer jungen Frau namens Lena Knecht zurück in seine Heimat Berlin. Für die amerikanische Künstlerin ist diese Ausgabe ein Familienerbstück. Aber auch ein faszinierendes Mysterium: Denn auf ihrer letzten Seite befindet sich eine handgezeichnete Karte. Ein Hinweis auf einen Schatz? Und was hat der ursprüngliche Besitzer dieses Buches, der von den Nazis verfolgte Germanist David Glückstein, damit zu tun?

Von dessen Liebe zu einer jüdischen Dichterin weiß in der Gegenwart nur noch der papierene Ich-Erzähler. Schließlich hat er sie seinerzeit miterlebt, auf dem Nachttisch oder in der Manteltasche. So wie das Buch in der Gegenwart als, Zitat, „stiller Zeuge“ beobachtet, wie die verheiratete Lena in Berlin eine Affäre mit Armin, einem jungen Mann aus Tschetschenien, beginnt, der ihr Buch erst vor einem Handtaschendieb, dann vor dem Stalker seiner Schwester rettet.

Die Geschichte von Armin und seiner Schwester, die beide im Kindesalter aus dem bombardierten Grosny nach Deutschland kamen, ist nur eine von vielen narrativen Seitenlinien, mit denen der irische Autor Hamilton seinen Roman überfrachtet. Eine andere besteht aus Rückblenden auf das Leben des heimatlosen Joseph Roth und seine von Eifersucht, Alkohol und Schizophrenie geprägte Ehe. Wie Hamiltons Ich-Erzähler auch davon wissen und erzählen kann, ist freilich unklar; anwesend war das Buch jedenfalls nicht, als Roth seine Frau seinerzeit in der Psychiatrie besuchte. Aber in Hamiltons Roman sollen sich eben Motive wie Verfolgung oder Heimatlosigkeit spiegeln wie „Echos der Vergangenheit“ – so der Romantitel.

Ärgerlicher als dieser erzählerische Taschenspielertrick ist, dass dem Autor gleich zu Beginn ein Schnitzer unterläuft: Lenas eifersüchtiger Mann hat vor ihrer Abreise ihr Handy gehackt, um sie von den USA aus zu überwachen. So wird er in Echtzeit Zeuge ihres Seitensprungs – dass aber dieses Handy Lena zuvor gestohlen wurde, hat der Autor offenbar vergessen. Dennoch beschert Hamiltons Roman auch Szenen, die die Lektüre lohnenswert machen. Satirische etwa wie jene in einem Buchclub im heutigen Berlin, in der „Die Rebellion“, immerhin das Werk eines verfolgten jüdischen Autors, umgehend als „Toter-weißer-Mann-Mist“ gecancelt wird. Oder magische Szenen. Wie jenen Moment, als Hamiltons papierener Ich-Erzähler nach Jahrzehnten des Exils in seine Bibliothek zurückkehrt – und erleben darf, wie sich ein tausendfaches, vielstimmiges Summen aus den Regalen erhebt, um ihn zu begrüßen.

Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Luchterhand Verlag, 288 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-630-87681-8

Stand
Autor/in
Oliver Pfohlmann