SWR2 Buch der Woche vom 12.03.2018

Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow

Stand
Autor/in
Claudia Fuchs

Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow

Endlich eine Neuübersetzung! James Baldwins Debütroman „Von dieser Welt“ macht den Anfang der deutschen Neuausgabe seines Werkes: die Geschichte eines schüchternen Jungen, der in den 1930er Jahren in Harlem aufwächst, zwischen religiöser Erweckung und rassistischer Unterdrückung.

Ein beeindruckender Roman, eine wunderbare Wiederentdeckung.

Eine Geschichte, stellvertretend für viele Schicksale

Erst in der Abgeschiedenheit eines Schweizer Bergdorfes fand James Baldwin 1952 die Ruhe, um seinen semiautobiografischen Roman zu schreiben, der heute als Klassiker gilt. „Von dieser Welt“ ist eine Familiengeschichte, die viele Afro‑Amerikaner in den 1930er Jahren so oder so ähnlich erlebten und durchlitten.

Im Mittelpunkt des Romans steht eine Gebetsversammlung in einer Hinterzimmerkirche in Harlem. Der 14jährige John Grimes soll in dieser Nacht „den Herrn erkennen“ und dem Beispiel seines Stiefvaters Gabriel als Laienprediger folgen. Zwischen dem Beginn der Andacht und Johns Bitte um göttliche Gnade, seine „Erweckung“, wird das Leben von Johns Mutter, seines Stiefvaters und seiner Tante Florence erzählt.

Einblick in ein afro-amerikanisches Familienleben

Drei schwarze Biografien in drei Kapiteln, die einen afro-amerikanischen Kosmos vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre öffnen. Die Rahmenhandlung beginnt an dem Samstag, an dem die Familie die abendliche Gebetsversammlung besuchen wird. Verwirrt von Schuldgefühlen, weil er die vermeintliche Sünde der Selbstbefriedigung begangen hat, die sein Seelenheil bedroht, erwacht John im März 1935 am Morgen seines 14.Geburtstages.

Dass niemand außer seiner Mutter, die mit ihrem fünften Kind schwanger ist, seinen Geburtstag überhaupt bemerkt, ist bezeichnend für die angespannte Familiensituation. Johns pietistischer, gewalttätiger Stiefvater verdient als Fabrikarbeiter kaum genug, um die stetig wachsende Familie zu ernähren. Dass der kleine, unsichere John ein guter Schüler ist, der viel liest, bringt ihm weder zu Hause noch bei Gleichaltrigen Anerkennung ein. In der heruntergekommenen Wohnung in Harlem erwartet John stattdessen die samstägliche Putzaufgabe.

Rassismus und familiäre Auseinandersetzungen werden in starken Bildern inszeniert

Der Küchenschmutz symbolisiert die Schuld, die den jungen John niederdrückt. Er hat nicht nur „mit den Händen gesündigt“, sondern hegt auch eine „heimliche Verachtung“ gegen manche Gemeindemitglieder. Nicht erst durch das Bibelzitat wird deutlich, wie sehr die Sprache des Romans an Rhythmus und Klang der Bibel orientiert ist. Die Wiederholungen erinnern an den Refrain von Kirchenliedern und an Gebete.

Die metaphernreiche Sprache ruft Bilder von ekstatisch aufgeladenen Erweckungsversammlungen in evangelikalen Kirchen wach. Die Auseinandersetzung des Protagonisten mit seinem aggressiven Stiefvater belastet ihn ebenso wie die rassistische Gesellschaft, in der er zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA aufwächst. Wer sich aus Harlem hinaus wagt, trifft als Schwarzer in Manhattan auf eine weiße Welt voller Rassenhass. John ist klug und redegewandt – seine einzigen Waffen, um zu überleben, wie er sehr wohl weiß.

Die Heimatlosigkeit ist autobiographischer Kern des Romans

Der Autor James Baldwin lebte in den 30er Jahren selbst als Teenager in Harlem. In einem Interview wurde er später gefragt, wie er die ersten zwanzig Jahre seines Lebens erlebte:

„Diese Frage ist schwer zu beantworten.Ich hatte Angst vor dem Tod während der ersten Jahre meines Lebens. Angst vor den Weißen, vor weißer Gewalt, wie sie Menschen meiner Umgebung auf jede Art und Weise ruinierten und auch mich ruinierten. Und dass ich und Menschen, die mir nahestanden, tatsächlich ruiniert wurden.“

Das Gefühl, gejagt und permanent bedroht zu sein, ist in der atemlosen Antwort des damals bereits 44jährigen Schriftstellers unüberhörbar. In seinem Erstlingsroman näherte sich Baldwin diesem beängstigenden Gefühl so überzeugend an, dass er schlagartig bekannt wurde. Sehr präzise beschreibt er die quälende Zerrissenheit des Jugendlichen John zwischen dem Wunsch nach Zugehörigkeit und dem Bedürfnis nach Distanz zu religiöser Heuchelei. Wo kann er sich verorten?

Dieses Grundthema der Heimatlosigkeit thematisiert Baldwin, der als homosexueller schwarzer Schriftsteller selbst vielen Anfeindungen ausgesetzt war, in zahlreichen Essays und Romanen. Darüber hinaus ist Baldwins Debütroman eine Sozialgeschichte der Afro-Amerikaner jener Jahre. Die Elterngeneration des Protagonisten ist aus den ländlichen Südstaaten, wo ihre Vorfahren als Sklaven arbeiteten, mit viel Hoffnung auf Gleichberechtigung und sozialen Aufstieg nach New York gegangen.

Ein zeitloser Klassiker, der aktueller denn je erscheint

Eindringlich wird die zerstörerische Wirkung von Rassismus am Beispiel von Johns leiblichem Vater Richard geschildert, der in eine Polizeikontrolle gerät, nachdem eine Gruppe schwarzer Jugendlicher einen Überfall verübt hatte. Als Johns Mutter wegen ihres verhafteten Freundes zur Polizeiwache muss, gerät dies zu einer demütigenden Tortur.

Hier wird die erschreckende Aktualität des Romans deutlich, weil die Bilder und Berichte rassistisch motivierter Polizeigewalt in Charleston und Ferguson wieder in Erinnerung kommen. Fast alles gilt bis heute. „Sein Werk altert nicht“, schreibt Verena Lueken in ihrem Vorwort zu dieser überzeugenden Neuübersetzung. Literarisch weist diese Aussage Baldwins 65 Jahre alten Roman als Klassiker aus. Gesellschaftspolitisch ist dies eine erschütternde Erkenntnis. Man darf also nicht nur aus literarischen, sondern auch aus gesellschaftspolitischen Gründen nicht aufhören, James Baldwin zu lesen.

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Autor/in
Claudia Fuchs