Immer wieder wird behauptet, Maxim Biller, der große Polemiker und rhetorisch gewandte Kolumnist, könne keine Romane schreiben, sondern sei eher ein Autor, der die kurze Form beherrsche. Auch wenn „Mama Odessa“ mit 230 Seiten durchaus überschaubar ist, liest sich der Roman dennoch wie ein Einwand gegen diese These. Die Erzählfäden fügen sich in diesem sehr persönlichen Werk zu einem dichten und äußerst kunstfertigen Textgewebe.
Der Anfang ist nahezu klassisch: „Im Mai 1987 – ich war erst sechsundzwanzig Jahre alt – schrieb mir meine Mutter auf einer alten russischen Schreibmaschine einen Brief, den sie nie abschickte.“ So geht es los, und es ist der Beginn einer verzweigten, von Geheimnissen, Verrat und historischen Gemeinheiten geprägten Familiengeschichte. Anfang der 1970er-Jahre emigriert die Familie Grinbaum, Vater, Mutter und Sohn, aus Odessa in die Bundesrepublik. Sie fliehen vor den Restriktionen und vor dem Antisemitismus in der Sowjetunion und landen in einem Land, das noch tief verstrickt ist in die nationalsozialistische Vergangenheit.
Wie autofiktional ist dieser Text? Wer nach einfachen Antworten sucht, ist bei Biller an der falschen Adresse. Seine eigene Familie stammt aus Moskau; geboren und aufgewachsen ist der Autor in Prag. Odessa, die Stadt am Schwarzen Meer, ist bei Biller sowohl der Ort einer Sehnsucht als auch ein Platz des Schreckens, an dem beispielsweise im Oktober 1941 rund 20 000 Menschen an einem einzigen Tag ermordet wurden – ein Lebensthema für die Erwachsenen in Billers Roman. Der Großvater ist diesem Massaker am Tolbuchinplatz wie durch ein Wunder entkommen.
„Mama Odessa“ entwirft nicht nur eine grandiose Mutterfigur, im Roman geistern, wie stets bei Biller, die literarischen Vorbilder durch die Zeilen. So entwickelt sich die Geschichte auch zu einem gewitzten Nachdenken über den Sinn schriftstellerischer Arbeit.