Die Short Story ist die Königsdisziplin der nordamerikanischen Literatur. Joy Williams, geboren 1944, hat sowohl Romane als auch mehrere Bände mit Kurzgeschichten vorgelegt. Dieser 2015 im Original erschienene Sammlung umfasst dreizehn Texte aus fünf Jahrzehnten und präsentiert einen eindrucksvollen Querschnitt durch das Werk einer Autorin, die im deutschsprachigen Raum noch viel zu wenig bekannt ist.
Man nehme nur einmal die erste Erzählung, die frei von jeder Ironie, aber in voller Ambivalenz den Titel „Liebe“ trägt und aus dem Jahr 1972 stammt. Es geht um Jones, einen Prediger, dessen Ehefrau unheilbar an Blutkrebs erkrankt ist. Die Frau wird in einer Klinik behandelt; die gemeinsame Tochter flieht vor der Situation und lässt wiederum ihre Tochter bei Jones zurück. Ein vermutlich letztes Mal wird die Frau ein Wochenende zu Hause verbringen, und Jones fragt sich, ob das nicht gerade ihr Anfang sei, ob nicht gerade alles zwischen ihnen erst begonnen habe. Die Geschichte, keine 20 Seiten lang, endet damit, dass die beiden das frisch geputzte Haus, nein: „die strahlenden Räume“, betreten.
Die Atmosphäre wird bereits in dieser frühen Story gesetzt. Bei allem Variantenreichtum im Tonfall verbindet Joy Williams‘ Erzählungen zweierlei: Zum einen liegt über ihnen eine schwer zu fassende Unheimlichkeit, etwas schwebend Bedrohliches. Zum anderen aber blitzen auch immer wieder Hoffnungsschimmer in diese eigentlich eher verschatteten Welten, die sie beschreibt. Raymond Carver, der als Referenzgröße in diesem Genre gilt, hat Williams‘ Geschichten als „Wunder“ bezeichnet. Ganz sicher folgen sie ihrer eigenen Logik und ihren eigenen Gesetzen.