In einem Zoo ist bekanntlich eine Menge los. Das gilt auch für Carolin Callies’ Gedichtband „teilchenzoo“, ein Langgedicht, das aus zweimal 64 Einzelgedichten besteht und sich von vorne und von hinten her einer fast leeren Mitte nähert. Damit verfolgt der Band auch stilistisch ein Ziel: er will die kleinsten Teilchen zum Sprechen bringen, sich dem nähern, was die Welt im Innersten zusammenhält. Oder, anders gesagt, dem, woraus sich Materie zusammensetzt, die um uns herum, die, aus der wir bestehen.
Was uns im Alltag statisch scheint, gerät hier in Bewegung. Ein Buch wie ein CERN: Die Teilchen werden mithilfe der Sprache quasi beschleunigt. Schrift- und Satzbild sind ebenfalls bewegt: zum Teil in getreppten und vertikal gedrehten Versen, in unterschiedlich großen Buchstaben. Die Worte werden einmal sogar regelrecht in Buchstabeneinzelteile zerrieben. Mal sprenkeln sich lediglich noch Pünktchen über die Seite zu Mustern zusammen und fragen:
„siehst du uns?“
Es sind die Teilchen selbst, die hier sprechen, gesehen werden wollen. Im fünften, aus einer einzigen Verszeile bestehenden Gedicht heißt es:
„wir winken dir durchs vergrößerungsglas zu“,
Es sind auch die Teilchen selbst, deren Bewegungen die der Sprache bestimmen, und es ist keineswegs immer ein kumpeliges „wir“, das uns aus diesem Zoo entgegenglotzt:
„wir schimmern dir aus einer dunkelheit entgegen & nur selten schimmert der tag durch das grüne netz“
Die Teilchen in ihren verschiedenen Zuständen und Richtungen haben nicht selten auch etwas Befremdliches und Bedrohliches. Um diese Teilchen-Tierchen zu bändigen, halten Callies‘ Gedichte eine intensive Sortiertätigkeit dagegen. Aus der Auseinandersetzung dieser Gedichte mit der Materie und ihren Bestandteilen ergeben sich zwangsläufig Sortierungen nach Größenverhältnissen:
wie wir beschaffen sind & in welches verhältnis wir uns setzen: im verhältnis zum berg, zu glas & der größe der heublumen“
Es ergeben sich Sortierungen nach Aggregatszuständen:
„wir lösen uns auf. granulat. uns machst du kein gesicht“,
Und es ergeben sich Sortierungen nach Richtungsbestimmungen:
„das längenvermessen, das dir, das seitenvermessen, das dir, den radius ziehen, der dir eine lippe markiert“
Die Gedichte vollziehen dabei aufsteigend bis zum 63. Gedicht ihre Sortierbewegung nach einem ganz bestimmten Programm, vorgegeben vom ersten Gedicht, in diesem Fall mit der Ordnungsziffer „0“:
„fährst du uns der kernnähe zu?“,
In den Gedichten mit abnehmender Ordnungszahl scheinen sich die Teilchen dann zu verklumpen, zu verkleben. Sie landen bei der Kernnähe:
„hier ist kernnähe. hier sind wir.“
Der Aufbau des Bandes ähnelt dem Periodensystem der Elemente, die, je höher ihre Ordnungszahl, immer instabiler werden. Callies‘ Band versetzt von zwei Seiten her die ruhende Materie in Aufruhr, zeigt uns die Welt als eine, deren Aufbau Regeln folgt, auch in der Sprache. Er zeigt uns, dass Menschen die Welt ordnen wollen und müssen, um sich Orientierung zu verschaffen. Die Autorin bleibt sich in ihrem dritten Band in vielem treu. Wie immer spielt Callies mit Klang und Rhythmus, erfindet neue Wörter, wie „fortbestandet“ oder „Nagungen“. Sie schwelgt in Alliterationen:
„zwiebel-, zwirbelkümmernisse, zirkelkümmernisse“
Sie ersinnt Binnenreime, wählt Parallelismen und Repetitionen.
Entstanden ist eine postmoderne Kosmogonie, die unsere Welt neu ordnet, ohne sie zu beherrschen, indem sie exakten naturwissenschaftlichen Taxonomien beziehungsweise Klassifikationen eine offenere lyrische Ordnung entgegenstellt, die uns fragt, wie klein oder wie groß wir selbst sind. Das kann man mögen. Es kann einem hin und wieder aber auch zu bunt werden. Spaß dürfte der „teilchenzoo“ all denen machen, die der Lust am Spiel und Sprachspiel mitfrönen wollen, und denen, die sich gewiss sein wollen, dass um sie herum und in ihnen drin wirklich immer etwas los ist.