Buchkritik

Meşale Tolu - Mein Sohn bleibt bei mir

Stand

Von Doris Maull

Ende April 2017 dringt eine vermummte Polizeieinheit in die Istanbuler Wohnung von Meşale Tolu ein, in der die Journalistin mit ihrem zweijährigen Sohn Serkan lebt. Nur drei Wochen zuvor war ihr Mann Suat verhaftet worden. In ihrem neuen Buch „Mein Sohn bleibt bei mir“ schildert Tolu die Nacht ihrer dramatischen Festnahme.

Dunkel gekleidete Männer mit schwarzen Masken verhaften Meşale Tolu

„Es war ein Schockerlebnis, ich wurde aus dem Bett gerissen und natürlich musste ich meinen Sohn , den ich bis dahin nur für wenige Stunden der Babysitterin überlassen hab, komplett zurücklassen und gehen“, erzählt Meşale Tolu im Gespräch mit SWR2-Redakteurin Doris Maull.

Die Polizisten nehmen Mesale Tolu schließlich mit – ihren Sohn Serkan muss sie – so wie er ist, in seinem blauen Frotteepyjama und ohne Schuhe an ihren Nachbarn Yakup übergeben- eine kleine Gummibärchentüte ist alles, was sie ihm als Trost dalassen kann. Danach wird sie ins Istanbuler Polizeipräsidium gebracht. An einen Ort, von dem Tolu in ihrem Buch sagt, sie hätte sich früher nicht mal getraut, in der Nähe dieses Gebäudes stehen zu bleiben, aus Angst, einkassiert zu werden.

Meşale Tolu: „Anfangs war ich sehr wütend, weil ich bis zu diesem Tag mein Leben selbst bestimmt habe, alles entschieden habe, wohin ich geh, was ich mache, was ich esse, aber plötzlich bestimmen andere Menschen über Sie und denken, dass sie die Macht über Sie haben – es war wie als hätten sie mein Leben aus meinen Händen genommen.“

Mit dem zweieinhalbjährigen Sohn im Gefängnis

Dennoch gibt Meşale Tolu sich nicht auf. In ihrem Buch schildert sie, wie sie versucht Symbole der Gewaltbereitschaft, wie mit dem Haaransatz herausgerissene Haarbüschel, die in der Gemeinschaftszelle des Polizeipräsidiums herumliegen, zu ignorieren. Wie sie aus Protest mit ihren weiblichen Mitgefangenen zunächst in einen Hungerstreik tritt. Wie sie sich auch durch permanente Drohungen, dass selbst irgendwann in Freiheit ihre Sicherheit und die ihres Sohnes gefährdet sein würden, nicht einschüchtern lässt. Und wie sie sich schließlich nach ihrer Verlegung in das berüchtigte Frauengefängnis Bakirköy entscheidet, ihren zweieinhalbjährigen Sohn zu sich ins Gefängnis zu holen. Eine Entscheidung, die sie noch heute, zwei Jahre danach, für richtig hält:

Meşale Tolu: „Ja, eindeutig ja. Weil, seelisch war er verletzt, hat Trennungsängste gehabt, hat gestottert, war aggressiv, hat eigentlich jeden dafür beschuldigt, dass ich nicht bei ihm war. Als ich das mitbekommen habe, war für mich klar, es ist für einen Zweijährigen besser, bei der Mutter zu sein, auch wenn er weniger oder andere Sachen zu essen hat oder eine Nacht ohne sein Lieblingskuscheltier schlagen muss. Ich denke, wir haben damals richtig entschieden.“

Und das, obwohl die Zeit mit dem zweieinhalbjährigen Sohn im Gefängnis alles andere als einfach war, wie wir im Buch erfahren:

Warum sind wir hier? Ich will gehen, wiederholte er ein ums andere Mal. Er stand auf, nahm meine Hand und wollte mit mir nach Hause. Meine Verzweiflung war auf dem Höhepunkt.“ (Meşale Tolu - Mein Sohn bleibt bei mir)

Fehlender Rechtsstaat in der Türkei

Der kleine Serkan ist fünf Monate geblieben – danach hat er das Gefängnis verlassen, weil er nicht mehr eingesperrt sein wollte. Meşale Tolu musste bleiben. In ihrem Buch schildert sie, wie sie sich auf ihren Prozess im Oktober 2017 vorbereitet, zitiert ihr Plädoyer vor Gericht – schildert schließlich ihre Freude über den langersehnten Freispruch im Dezember 2017 – und die Wut und Empörung darüber, dass sie nach diesem Freispruch erneut von der Antiterroreinheit entführt und kurzzeitig inhaftiert wurde, bevor sie ihre Familie endgültig wieder in die Arme schließen konnte.

Natürlich hat man unmittelbar nach der Freilassung der Journalistin Mesale Tolu und ihrer späteren Ausreise nach Deutschland viel über ihre Inhaftierung in Zeitungen und Zeitschriften gelesen und in Interviews gehört. Aber in diesem Buch erzählt sie erstmals die ganze Geschichte – detailliert, anschaulich, eindringlich. Eine anrührende Geschichte – und ein Lehrstück in Sachen nicht vorhandener Rechtsstaat in der Türkei.

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SWR