Buchkritik

Dror Mishani – Fenster ohne Aussicht

Stand
Autor/in
Ulrich Rüdenauer

Wie soll das Leben weitergehen nach dem 7. Oktober 2023? Was bedeutet nun Alltag? Welche Zukunft kann es geben? Nach dem Hamas-Angriff auf Israel ist alles anders, nicht nur für die Juden in Israel, sondern auf der ganzen Welt. Dror Mishani versucht in „Fenster ohne Aussicht. Tagebuch aus Tel Aviv“ das Geschehen einzufangen und zu begreifen.

Der Krimischriftsteller und Literaturwissenschaftler Dror Mishani ist am 7. Oktober 2023 nicht zu Hause bei seiner Familie in Tel Aviv, sondern auf einem Literaturfestival in Toulouse.

Er kann die Dimension des Hamas-Angriffs auf Israel zunächst nicht einschätzen, aber mit jedem Blick auf die Nachrichten- und Social-Media-Seiten wird ihm das Ausmaß der Katastrophe deutlicher. Er reist kurzfristig ab, zurück nach Israel. Er ahnt, dass ein Krieg um „unsere nackte Existenz“ beginnen wird, er sorgt sich um seine Frau und Kinder. 

Ich versuche zu verstehen, warum ich jetzt Angst habe wie noch nie zuvor. Warum ich das Gefühl habe, durch die Straßen einer zerstörten Stadt zu fahren. Schließlich hat jeder, der lange genug hier lebt, schon Katastrophentage erlebt.

Tagebuch statt Kriminalroman

Mishani beschließt, ein Tagebuch zu schreiben – zu notieren, was um ihn herum geschieht, die durcheinanderwirbelnden Eindrücke und Emotionen zu ordnen und dabei nicht selbst von Irrationalem mitgerissen zu werden. Der bezeichnende Titel: „Fenster ohne Aussicht“. An normale Arbeit ist nicht zu denken; der begonnene Kriminalroman bleibt erst einmal liegen. 

Mishani beobachtet, wie die tiefe Trauer des Landes sich auf politischer Ebene rasch in einen Rachefeldzug verwandelt, wie die Situation eskaliert. Er versucht, Trost in der Literatur zu finden, auch so etwas wie Orientierung.

Mit Homers „Ilias“ blickt er auf den aktuellen Krieg, der etwas Apokalyptisches hat. In sechs Tagebuch-Teilen und einem Epilog versucht er, mit seiner Rat- und Rastlosigkeit umzugehen, die Geschehnisse auch für sich selbst in Phasen einzuteilen – „Verwirrung und Furcht“ oder „Atempause“ oder „Flucht und Fantasien“ nennt er diese.

Immer wieder sinnt er darüber nach, politische Artikel über die aufgeladene Stimmung zu schreiben, auch über sein Entsetzen, dass zur Bedächtigkeit aufrufende Stimmen herabgewürdigt werden.  

Die Zahl der Kriegsopfer steigt minütlich, so wie die der Ermordeten am 7. Oktober in Israel. Unter den Hunderten von Toten sind viele Kinder. Eltern tragen ihre Kinder auf dem Arm zu den Krankenhäusern. Auf unseren Nachrichtenkanälen dagegen bekommt man Gaza so gut wie nicht zu sehen, wird nicht einmal darüber berichtet, dass die Bodenoffensive bereits begonnen hat.

Spaltung von Gesellschaft und von Familien

Mishani gehört zu jenen Israelis, die an ein Miteinander geglaubt haben, an ein Miteinander weiterhin glauben wollen. Sein beeindruckendes Tagebuch spricht von den sich vermischenden Gefühlen von Angst, Trauer und Wut. Der Spalt, der durch Individuen geht, geht auch durch die Gesellschaft und die Familien.

Mishanis Bruder, der bei einer Kampfeinheit gedient hat, prophezeit einen Krieg mit dem Libanon; die Mutter streitet sich mit ihm über Politik, provoziert ihn mit der Aussage, die Hamas-Kämpfer seien schlimmer als Nazis. 

Aus Sicht meiner Mutter ist die Teilhabe am Krieg durch das Anschauen von Videoaufnahmen des Massakers und den fortlaufenden Nachrichtenkonsum so etwas wie ein Initiationsritus in Israelisch-Sein für unbeschwerte Jungen und Mädchen, die gedacht haben, das Leben bestehe nur aus Katzenvideos auf TikTok oder Taylor-Swift-Songs. So eine Art Bund der Beschneidung, eine nationale Brit-Mila.

Eine Stimme der Vernunft inmitten des Krieges

Nicht allein an solchen Sätzen merkt man, welch tiefe Wunden dieser Angriff gerissen hat, wie das Selbstverständnis der Israelis herausgefordert wurde. Mishani aber bleibt in seinem fragenden, vom eigenen Unbehagen erschütterten Tagebuch eine Stimme der Vernunft.

Er erkennt hellsichtig, welche Auswirkungen der Krieg haben wird: Nichts, schreibt er, rechtfertige das furchtbare Morden am 7. Oktober. Aber was Israel zum Unfrieden beigetragen hat und beiträgt, müsse mitbedacht werden.

Niemand ist ganz unschuldig, Rache kein Fortschritt: Das sagt dieses Tagebuch. Lösungen liefert es keine. Mishani ist so ohnmächtig wie wir alle. Aber die Ohnmacht überhaupt auszusprechen ist der erste Schritt, wieder durch ein „Fenster mit Aussicht“ zu blicken. 

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