Buchkritik

Mikael Ross – Der verkehrte Himmel

Stand
Autor/in
Silke Merten

Illegale Einwanderung aus Vietnam erzählt als rasanter Berlin-Krimi. Die Graphic Novel „Der verkehrte Himmel“ ist Entwicklungsroman und Tragikomödie in einem. Comiczeichner Mikael Ross jongliert darin gekonnt mit Genre-Versatzstücken. Dabei zeichnet er ein Berlin, das selbst vielen seiner Einwohner unbekannt sein dürfte. Ein Sommer-Schmöker mit Tiefgang.

Dieses Berlin hat man im Comic noch nicht gesehen. Straße um Straße nur Plattenbauten, ab und zu ein Gewerbegelände oder Supermarkt, dazwischen Schrebergärten: Lichtenberg, im Nordosten der Stadt. Und obwohl alles in schwarzweiß gezeichnet ist, wird sofort die drückende Hitze des Sommers spürbar.

Aber die Graphic Novel „Der verkehrte Himmel“ lässt keine Zeit für Bildbetrachtungen. Zeichner Mikael Ross setzt auf Tempo und sage und schreibe ein Dutzend Figuren, um eine Geschichte über Freundschaft und Verantwortung zu erzählen. Dafür strickt er einen raffinierten Krimi-Plot.  

Zum Auftakt lässt er das Mädchen Tâm auf seinen neuen Inline-Skates in ein parkendes Auto knallen. Einfach abhauen geht nicht – also hinterlassen Tâm und ihr Bruder Dennis einen Zettel mit ihrer Adresse.

Dabei entdecken sie im Wagen eine schöne, junge Frau. Vietnamesin wie sie selbst. Sofort wird klar: Mit ihr stimmt etwas nicht. Weder weiß sie, wo sie sich befindet, noch kann sie die Autotür öffnen.  

Eine junge Vietnamesin auf der Flucht vor ihrem Schleuser  

Knapp 100 Seiten später sehen die drei sich wieder. Da ist die junge Frau namens Hoa Binh schon ein paar Tage auf der Flucht. Der Fahrer des Autos ist hinter ihr her. Denn sie ist illegal in Europa und der Fahrer ihr Schleuser. 

Hoa Binh: Er hat mich gezwungen, einen Schuldschein zu unterschreiben: 25.000 Dollar! Das sollte ich dann abarbeiten. (...) 

Tâm: Aber warum bist du dann nicht einfach abgehauen? 

Hoa Binh: Ich hab's versucht. Das erste Mal vor zwei Wochen. Aber er hat mich wieder gekriegt. Er war schrecklich wütend, weil er dachte, ich wäre zur Polizei gegangen. Dann steckte er mich in den Van. Wir fuhren zwei Tage lang bis zu dem Parkplatz, wo ihr mich gesehen habt. 

Hoa Binhs Flucht ist an sich dramatisch genug. Der Comiczeichner verknüpft sie zusätzlich mit der Geschichte von Alex, einem Mitschüler von Tâm. Der verfolgt seinerseits den Schleuser, aus ganz persönlichen Gründen. Doch als er dabei zusammen mit Tâm einen abgetrennten Finger findet, will er nicht die Polizei einschalten.  

Viel Stoff für einen Krimi. Und das sind nicht die einzigen losen Enden, die Mikael Ross auf über 300 Seiten immer neu verknüpft. Seine komplexe Dramaturgie hält auch Leserinnen und Leser jenseits der Teenagerjahre in der Spur.  

Manga, Krimi und Sozialstudie in einem 

Viel Handlung verlangt nach schnellen Dialogen und einer Bildkomposition wie im Actionfilm. Der Manga, bei dessen Ästhetik Ross sich bedient, eignet sich dafür ideal. Allein wie gekonnt Ross das Tempo bei Verfolgungsjagden durch Bewegungslinien steigert, ist ein optischer Genuss.

Und die überzeichnete Mimik der Figuren, auch typisch für den Manga, nutzt er, um komische Akzente zu setzen. Allerdings: viel Action und Komik bergen die Gefahr, dass die Geschichte ihre Glaubwürdigkeit verliert. Aber in „Der verkehrte Himmel“ finden sich auch Momente von Traurigkeit und unverhoffter Nähe.

Dann durchbricht Ross das harte Schwarzweiß mit zarten Lichtstimmungen – ein paarmal sogar in Rosa-Rot. Hinzu kommt: Gute Krimis sind auch Sozialstudien. Da Mikael Ross als Hilfslehrer in Berlin-Lichtenberg gearbeitet hat, liefert sein Comic ein ziemlich genaues Porträt des Kiezes.

Diskussionen über Herkunft spielen hier keine Rolle, Tâm und Dennis sind als viet-deutsches Geschwisterpaar der Normalfall. In diese Normalität lässt Ross das Verbrechen Menschenhandel einziehen. Was alle Figuren zwingt, sich damit auseinanderzusetzen. Das sorgt für Konflikte, vor allem zwischen dem zurückhaltenden Dennis und der energischen Tâm.  

Dennis: Damit muss sie zur Polizei! 

Tâm: Nein! Die würden sie sofort abschieben! Sie ist illegal hier. 

Dennis: Illegal? Tâm, das ist kein Kinderspiel! 

Tâm: Sie hat keinen Ort, an den sie gehen kann, okay? Und wir können ihr helfen. Was ist dein Problem damit? 

Dennis: Dass es uns nichts angeht! (...) 

Tâm: Aber mich geht es an. 

Weder Tâm noch den anderen Figuren bietet Mikael Ross ein Happy End. Trostlos lässt einen die Lektüre von „Der verkehrte Himmel“ trotzdem nicht zurück. Selten vereint ein Comic so gelungen Action mit Nachdenklichkeit, Komik und Abwechslung fürs Auge. Auch beim zweiten oder dritten Lesen. 

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