Bei der Buchmesse 2019 stellt sich Norwegen als Gastland vor. Zu den bekannten literarischen Stimmen aus Norwegen zählt auch Jon Fosse, einer der weltweit meistgespielten Gegenwarts-Dramatiker. Jetzt legt er ein Roman-Großprojekt vor: „Der andere Name“ ist der Titel der ersten beiden Teile eines auf sieben Bände angelegten Romanzyklus.
Melancholische Stimmung als Merkmal des Nordens
Unter den gegenwärtig hoch gehandelten Stars der norwegischen Literatur wie Karl Ove Knausgård, Jan Kjærstad oder Tomas Espedal ist Jon Fosse vielleicht der nordischste.
Das legen zumindest die in seinen Büchern vorherrschenden Stimmungen nahe, bei denen die Melancholie, die langen nordischen Nächte und die allegorisch aufgeladenen Landschaften oft eine große Rolle spielen.
Nobelpreis 2023 Jon Fosse erhält den Literaturnobelpreis 2023
Der norwegische Autor Jon Fosse erhält den Literaturnobelpreis 2023. Das gab die Schwedische Akademie am Donnerstag in Stockholm bekannt.
Die Werke Fosses sind eng ineinander verwoben
Jon Fosse wurde 1959 in der Küstenstadt Haugesund geboren. Am Anfang seiner steilen Karriere als Schriftsteller standen Lyrik und einige Romane. Seit den 1990er-Jahren hat er eine große Zahl an Theaterstücken verfasst, die mit viel Erfolg auf internationalen Bühnen gespielt werden.
Zwischen seinen Texten gibt es viele thematische und stoffliche Querverbindungen, auch aus seiner Vorliebe für Künstlergeschichten ergeben sich manche Ähnlichkeiten.
„Der andere Name“ ist Grundstein einer Heptalogie
So lassen sich zwischen dem Helden seines neuen Romans einige Parallelen zum Autor erschließen: beide sind Künstler, beide sind zum Katholizismus konvertiert, beide tragen ihr Haar zum Pferdeschwanz gebunden. Und zu allem Überfluss gibt es auch noch ein Doppelgänger-Thema.
Jon Fosses neuer Roman trägt den Titel „Der andere Name“. Genau genommen aber besteht das jetzt vorliegende Buch aus zwei Teilen, die später zu einem siebenteiligen Zyklus anwachsen sollen - zu einer Heptalogie.
Im Mittelpunkt steht der Maler Asle, der nach dem Tod seiner Frau zurückgezogen in der Nähe eines kleinen Ortes an der norwegischen Südwestküste lebt.
Jon Fosse – Ein neuer Name. Heptalogie VI-VII
Mit „langsamer Prosa“ wird das Leben des Protagonisten gezeichnet
Wie in einem großen inneren Monolog - Fosse selbst nennt es „langsame Prosa“ - lässt sich Asle sein Leben durch den Kopf gehen: Gegenwart und Vergangenheit, Vorstellung und Wirklichkeit, Tag und Traum vermischen sich zu einer großen Erzählung von Schmerz und Erlösung.
„Der andere Name“ gehört einem zweiten Asle, der auch im Ort lebt: ein dunkles, dem Alkohol verfallenes Alter Ego des Malers Asle. Eines Tages kommt es zur Begegnung. Ein Roman über Einsamkeit, Liebe, Kunst und Erleuchtung, vor dem Hintergrund der erhabenen norwegischen Landschaft.
Einsamkeit vor grandioser Kulisse
Eigentlich haben sie es gemütlich, diese älteren Herren, in ihren rustikalen Häusern, nicht weit vom längsten norwegischen Fjord.
Ein bisschen einsam sind sie zwar durchaus, aber die wilde, grandiose Landschaft bietet eine hervorragende Kulisse für Männereinsamkeit, noch dazu, wenn sie durch Kunst geadelt und durch handfeste Arbeit ergänzt wird.
Wenn der Maler Asle nach langer Fahrt über die gewundenen Landstraßen mit den Einkäufen aus der Stadt nach Hause kommt, erwartet ihn schon sein Nachbar Åsleik, der Fischer.
Strom von Gedanken, Erinnerungen und Wahrnehmungen
Sie heizen den Ofen an, schmeißen Speck, Zwiebeln und Eier in die Pfanne und führen eines ihrer wortkargen Gespräche, in denen die Balance zwischen Annäherung und Distanz nie ins Wanken gerät.
Eigentlich eine Idylle für reife Männer, die wissen, was sie im Leben verloren und noch zu erwarten haben und die seit langem darin geübt sind, mit sich selbst klar zu kommen.
Wäre da nicht der Strom von Gedanken, Erinnerungen und Wahrnehmungen, der Asle, dem Maler, fortwährend durch den Kopf geht, und der den Text von Jon Fosses Roman „Der andere Name“ ausmacht.
Das Licht der Erlösung soll in den Bildern sichtbar werden
Obwohl die Wendung „denke ich“ in diesem Roman ebenso häufig vorkommt wie in den Verstörungs- und Verurteilungsarien von Thomas Bernhard, hat sie hier eine ganz andere Funktion:
Anders als die Bernhard-Figuren formuliert der Maler auf vorsichtig suchende, sinnende, sich voran tastende Weise. Über die Bilder, die Asle malt, macht er nicht viele Worte, aber eines ist ihm wichtig: Es muss in ihnen ein Licht sichtbar werden, ein Zeichen der Erlösung, wie er es auch im katholischen Glauben und im regelmäßigen Gebet sucht.
Die Hölle ist der Idylle nie fern
Asle weiß, dass auch in seiner so friedlich anmutenden Idylle die Hölle mitunter zum Greifen nahe ist. Nämlich die Hölle des Schmerzes über den Verlust seiner Frau, das Entsetzen darüber, wie das Leben von der Zeit hinweggerafft wird, der Schrecken angesichts der Möglichkeit, dass sein Schicksal auch ganz anders hätte aussehen können.
Zum Beispiel wie das seines Namensvetters, des gescheiterten alkoholkranken Künstlers Asle, um den er sich kümmert, als der sich, vom Delirium zermürbt, nicht mehr aufrecht halten kann. Auf dieses Alter Ego dürfte sich der Romantitel beziehen.
Kein Punkt, aber mit reichlich Kommata
Jon Fosses Roman ist gebaut wie ein großer Bewusstseinsstrom, in dem gegenwärtiges Erleben, Erinnerungen, Empfindungen und Gedanken ständig ineinander fließen.
Kommata kommen dabei reichlich zum Einsatz, Punkte dagegen niemals. Konsequent und oftmals virtuos hat der Autor alle Grenzen zwischen der Wirklichkeit seines Helden und den Vorstellungen in seinem Kopf verwischt.
Unkomische Schwerfälligkeit
Wenn auch in den nachfolgenden Romanteilen alles zur Sprache kommt, was dem Ich-Erzähler an Erlebnis- und Erinnerungsstoff durch den Kopf geht, dürfte uns kein Winkel im Denken und Wesen des Malers Asle unbekannt bleiben.
Schon jetzt allerdings ist gut erkennbar, dass Reiz und Risiko von Jon Fosses Erzählweise eng miteinander verwoben sind. Denn Einfachheit, auch Geistesschlichtheit, hat er sehr absichtsvoll zum Stilmittel gemacht.
Daraus ergibt sich manche nicht ganz unkomische Schwerfälligkeit. Mit modernistischen Denkweisen wie dem Theoretisieren oder anderen intellektuellen Turnübungen will der Romanheld jedenfalls absolut nichts zu tun haben. Wenn es jedoch um mystische Erfahrungen geht, dann ist er in seinem Element.
Fosse stellt der Schnelligkeit unserer Zeit das Einfache gegenüber
Gedanklich feiert Jon Fosse in seinem Roman die Einfachheit und setzt sich damit demonstrativ ab von der Schnelligkeit unserer Zeit und der wendigen Gewitztheit ihrer Diskurse.
Daraus entsteht nicht auf jeder Romanseite starke Literatur. Trotzdem kann diese Schreibweise wie ein starkes Signal wirken. Denn der Autor hat die innere Stimme seines Romanhelden mit Bedacht komponiert.
Nordische Daseinsmelodie
Daraus entstanden ist nicht nur ein Sprachfluss, sondern eine Daseinsstimmung, man kann es auch Melodie nennen. Aber natürlich lassen sich Daseinsmelodien auf ganz verschiedene Weise spielen.
Das Genre, in dem Jon Fosse hier komponiert hat, ist zweifellos ein nordisches. Es passt zu den norwegischen Fjorden, dem Treiben der Menschen zwischen Land und Meer und zu einem Himmel, der die längste Zeit mehr Dunkelheit mit sich führt als in anderen Weltgegenden.
Da wirkt jede menschliche Großtuerei fehl am Platz. Und die Sehnsucht nach mystischen Lichtblicken im Dunkel ist umso größer.
SWR2 lesenswert Magazin Manuskript - 13.10.2019 - Buchkritik Jon Fosse - Der andere Name