Neige Sinno wurde als junges Mädchen von ihrem Stiefvater jahrelang sexuell missbraucht. In „Trauriger Tiger“ erzählt sie, was die extreme Erfahrung mit und aus ihr gemacht hat. Ein so schonungsloses wie kluges Buch.
„Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat“, meinte Jean-Paul Sartre. Ein schöner, mutmachender Satz. Aber gilt er für alle Menschen und alle Lebenslagen?
Jahrelang sexuell missbraucht
Oder gibt es Erfahrungen, die so einschneidend und zerstörerisch sind, dass sich aus ihnen schlechterdings nichts Positives machen lässt? Wie ist es zum Beispiel, wenn ein Mädchen jahrelang sexuell missbraucht wird? Neige Sinno antwortet so:
Menschliche Abgründe
Aber die Autorin – und das ist typisch für ihr Buch – hinterfragt sich selbst immer wieder. Das seien „bombastische Sätze“, sie könne sich täuschen. Statt zu verallgemeinern, sollte sie besser von ihrer eigenen Erfahrung sprechen, ermahnt sie sich. Und das tut sie – schonungslos und klug.
Mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester und den Hippie-Eltern wächst Neige Sinno in einem kleinen Ort in den französischen Alpen auf. Als die Mutter einen anderen Mann kennenlernt, lässt sie sich scheiden, um mit dem attraktiven Bergführer und den Kindern, zwei weitere kommen bald hinzu, auf einem heruntergekommenen Bauernhof zusammenzuleben.
Neige Sinno erzählt klar und pathosfrei
Sieben Jahre lang wird Neige Sinno von ihrem Stiefvater während dieser Zeit sexuell missbraucht. Ihr Martyrium beginnt, als sie ungefähr sieben ist, genau kann sie sich nicht erinnern. Mit 21 entschließt sie sich zur Anzeige, um ihre jüngeren Geschwister zu schützen.
Ihre Mutter, die sich geweigert hat, etwas zu bemerken, braucht ein Jahr, um den Schock zu verarbeiten und sich von dem Täter zu trennen. Dieser gesteht und wird zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. Das sind die Fakten, an denen entlang Neige Sinno klar und pathosfrei ihre Geschichte erzählt.
Immer wieder kreist sie um den Gedanken, dass es für ein Missbrauchsopfer nie ein Happy End gibt. Das Buch ist aber nicht nur Zeugnis einer existenziellen Beschädigung, es ist auch der Versuch, menschliche Abgründe auszuloten.
Autorin porträtiert den Täter
Die Autorin betrachtet sich als kleines Mädchen und als erwachsene Frau, sie porträtiert den Mann, der sie missbraucht hat, und sie denkt über die „Blindheit“ ihrer Mutter nach. Ausführlich zitiert sie aus Büchern, die absolute Herrschaft und extreme Gewalterfahrungen thematisieren.
Sie hat Nabokovs „Lolita“, Virginia Woolf, Christine Angot, Emmanuel Carrère gelesen. Von William Blake und seinem Gedicht „Der Tiger“ hat sie sich zum Titel ihres Buches inspirieren lassen. Immer wieder räsoniert sie auch über das eigene Schreiben und die Frage, wie sie überhaupt von ihren Erfahrungen erzählen könne.
Eine unbegründete Sorge
Neige Sinno berichtet auch von der Angst, mit ihrem Buch nur zu Radiosendungen zum Thema Inzest eingeladen zu werden. Die Sorge hat sich jedoch als unbegründet erwiesen. Ihr Buch hat in Frankreich zahlreiche Preise erhalten. Verdientermaßen.
„Trauriger Tiger“ ist ein bedrückendes, vor allem aber ein radikal aufklärerisches Buch. Neige Sinno gelingt es, in einer präzisen Sprache von extremen Erfahrungen zu erzählen, über die sich kaum sprechen lässt.
Mehr Bücher zu sexuellem Missbrauch
Gespräch Vigdis Hjorth – Ein falsches Wort
Die Norwegerin Vigdis Hjorth erzählt in diesem Familienroman von den seelischen Folgen eines Missbrauchs – und von einer Tochter, die um die Anerkennung ihrer Geschichte kämpft. Ein psychologisch kluges und bewegendes Buch über ein tief beschädigtes Leben. Bei seinem Erscheinen 2016 in Norwegen sorgte Hjorths Roman für einen Skandal.
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
S. Fischer Verlag, 400 Seiten, 25 Euro
ISBN 978-3-10-397513-0
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Ein Mann erschießt sich in einem Restaurant. So beginnt Lisa Taddeos Roman "Animal". Die Liebhaberin des toten Mannes, Joan, flieht aus New York nach Los Angeles. Dort enthüllt sich Stück für Stück ihre Vergangenheit. Sie ist durchzogen von Affären, Verlusten, sexuellem Missbrauch und Gewalt.
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Aus dem Norwegischen von Paul Berf
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ISBN 978-3-630-87437-1
Rezension von Kristine Harthauer.