Buchkritik

Maria Stepanova – Der Absprung

Stand
Autor/in
Ulrich Rüdenauer

Eine russische Schriftstellerin, die ihre Heimat verlässt, weil „das Untier“ einen Angriffskrieg gegen die Ukraine angezettelt hat. Bei einem Lesefestival, wo sie auftreten soll, kommt sie nie an. Maria Stepanova erzählt mit leisen Anspielungen, literarischen Verweisen, traumhaft und realistisch zugleich von einem langen Abschied - einem Abschied von ihrer Heimat und auch, zumindest in Teilen, von sich selbst.

Den Absprung wagen – eine häufig gebrauchte Wendung, die vom Verlassen einer unhaltbaren Situation und zugleich von einem Neubeginn spricht. „Der Absprung“ heißt das neue Buch der russischen Lyrikerin, Essayistin und Erzählerin Maria Stepanova.

Ihr Roman ist eine direkte Reaktion auf die Erschütterung des Krieges, auf jenen Rückfall in die Barbarei des 20. Jahrhunderts. Das Buch beginnt mit der seltsam berührenden Beobachtung, dass die Welt trotz aller Katastrophen weitermacht:

Im Sommer 2023 wuchs das Gras weiter, als wäre nichts geschehen: es wuchs, als ginge es gar nicht anders, wie um ein weiteres Mal zu zeigen, dass es an seiner Absicht festhielt, aus der Erde zu sprießen, ganz egal, wie viel auf deren Oberfläche gemordet wurde.

Das Exil als Ort der Konfrontation

Die Schriftstellerin M., das Alter Ego Stepanovas, ist in einem sicheren Land, weit entfernt von ihrer Heimat und doch fortwährend in Gedanken bei den monströsen Ereignissen in der Ukraine. Das Exil ist ein Ort der absoluten Konfrontation mit der zugeschriebenen Rolle, den Zweifeln an der Urteilsfähigkeit, der Verantwortung, sogar der Schuld, obwohl man selbst nicht schuldig ist, weil das eigene Handeln und Denken eigentlich Zeugnisse des Widerstands sind.

Die Stadt im Ausland, wo M. jetzt wohnte, war voll mit Menschen, die aus beiden Ländern geflohen waren, und diejenigen, über die M.s Landsleute hergefallen waren, blickten mit Schrecken und Argwohn auf die einstigen Nachbarn, als hätte deren Leben vor dem Krieg, wie auch immer es ausgesehen hatte, keinerlei Bedeutung mehr, als diente es nur zur Tarnung ihrer Verwandtschaft mit diesem Untier, das immer weiter fraß.

Das „Untier“ namens Putin

Das Untier – der Leviathan – das ist Putin. Das Untier ist nicht mehr zu verstehen, gesteht sich M. ein. Sie funktioniert zwar, aber nichts mehr ist an seinem Ort, die Arbeit wird zu einer sinnlosen Angelegenheit, die verständnisstiftenden Einzelteile fügen sich nicht mehr zusammen. Selbst die Sprache, älter als das Untier, scheint kontaminiert.

… und doch schien auch sie plötzlich von einer verdächtigen Schleimschicht bedeckt.

Im Gegensatz zu M., die eine halbtote Maus im Mund zu verspüren meint, wenn sie nach Worten sucht, verfügt Stepanova über Sprache: Sie schickt ihre haltlose Heldin auf eine Reise. Eigentlich ist das Ziel ein Literaturfestival. Aber die Bahn macht ihr einen Strich durch die Rechnung, ein Anschluss wird verpasst; das Handy gibt den Geist auf, die Veranstalter versetzen sie; so werden die Pläne zugunsten eines ziellosen Treibens aufgegeben.

Wir durchstreifen nicht nur M.s Gedanken, sondern mit ihr auch eine fremde Stadt, folgen mit ihr einem Mann, der sie fasziniert und den sie später kennenlernt. Es scheint, als würde der geplatzte Termin eine Last von ihr nehmen. Fast ist es, als würde sie sich für einen Moment ihrer Identität entledigen, sich häuten, den Absprung schaffen.

Sie heuert als zersägte Jungfrau bei einem Wanderzirkus an, gerät immer weiter in eine märchenhaft anmutende Szenerie, und am Ende scheint sie im Zirkusdirektor Peter Cohn einen blinden Seher vor sich zu haben.

Du bist keine Rumänin, sagte Cohn noch einmal; in seinen schwarzen Brillengläsern schaukelten zwei große Glühbirnen. Du bist eine von uns, Liebes, eine Jüdin, ja? Und M., die sich seit Monaten immer nur als Russin bezeichnet hatte, als russische Schriftstellerin, als russischsprachige Person, wiederholte beinahe verwundert: ja.

Ein Buch wie eine traurige Abschiedsmelodie

Maria Stepanova hat einen äußerst dichten Text geschrieben, eine reflektierende, assoziationsreiche Prosa mit leisen Anspielungen, literarischen Verweisen, traumhaft und realistisch zugleich. Vor allem scheint das Buch eine traurige Abschiedsmelodie – ein Abschied vom Selbst, das sich durch das Geschehen ringsum überlebt hat.

Auch der Name verschwindet: Aus M. wird A. Ob ihr der Absprung aber wirklich gelingt und damit ein Neubeginn, das bleibt – wie meist im Leben und in der Literatur – erst einmal offen.

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