Buchkritik

Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock

Stand
Autor/in
Michael Kuhlmann

Die meisten Ostdeutschen haben nie Gelegenheit bekommen, Demokratie zu lernen, meint der Autor Ilko-Sascha Kowalczuk. 1989/1990 kam der „Freiheitsschock“. Wie damit umgehen? Kowalczuk plädiert für mehr aktive Eigenverantwortung und die Abkehr von der eigenen Opferrolle.

Sascha Kowalczuk ist stocksauer. Die Dauernörgelei im Osten, das Wahlverhalten der Wutbürger - in alledem schwingt für Kowalczuk ein Stück Realitätsblindheit mit. Denn:

Die deutsche Einheit ist nicht nur längst vollzogen. Sie ist auch eine Erfolgsgeschichte geworden. Das ist nur noch nicht durchgedrungen.

Aus Kowalczuks Sicht nämlich haben viele Ostdeutsche nie begriffen, dass Demokratie im Kern nicht D-Mark, Mallorca-Reisen und Rundumversorgung bedeutet. Sondern dass Diktatur-Sozialisierte zu citoyens heranreifen müssen:

Freiheit ist eine Angelegenheit, die nur funktionieren kann, wenn sich der Einzelne bewegt und sich in seine eigenen Angelegenheiten einmischt.

Gespräch Ilko-Sascha Kowalczuk: „Wir brauchen wieder positivere Erzählungen in diesem Land“

Mit dem Mauerfall erlitten die Menschen in Ostdeutschland einen „Freiheitsschock“ – meint der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. Und nennt so sein neues Buch mit dem Untertitel „Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute“.

Gespräch SWR Kultur

Freiheit bedeutet Einmischung

Mit Einmischen meint Kowalczuk nun keineswegs den tumben Stammtisch um die Ecke oder  bei X  und Tiktok. Sondern dass man kapiert, dass Demokratie Interessenausgleich und Kompromiss bedeutet. Also sich einmischen, den Mund aufmachen mit Verständnis für die Gegenseite. Aber, so der Autor weiter:

Genau das wird einem in der Diktatur mit allen Mitteln abgenommen, abtrainiert, brutal weggenommen.

Zwei Gesellschaften trafen aufeinander, die sich längst auseinander gelebt hatten

Denn dort gab es nur eine Wahrheit. Was das in den Köpfen hinterlassen hat, haben auch die verbohrtesten Antikommunisten im Westen nie erfasst. 1990 sind zwei Gesellschaften zusammengeführt worden, die sich so weit auseinandergelebt hatten, wie es nur denkbar war. Naiv glaubten viele gelernte Bundesbürger, die Ostdeutschen hätten ja nur auf sie gewartet - denn nach 28 Jahren Gefängnis und 40 Jahren SED-Gängelung lechze man naturgemäß nach genau der Freiheit, die der Westen nun bringe. Umgekehrt dachten die meisten DDR-Bürger genauso naiv. In ihrer einzigen freien Volkskammerwahl im März 1990 votierten sie für den schnellen Beitritt. Vor lauter Euphorie waren sie blind. Kowalczuk konstatiert:

Sie erfanden einen Westen, den es nie gab. Sie konstruierten eine Idylle, die sie am 18. März 1990 herbeiwählen wollten. Eine Fehlwahrnehmung, die fast niemand dem eigenen Unvermögen anlastete, sondern dem Westen selbst, der sie angeblich getäuscht, betrogen, belogen hätte.

Hier muss man Kowalczuk allerdings entgegenhalten, dass alle bundesdeutschen Parteien außer den Grünen den Volkskammerwahlkampf aktiv gekapert hatten - und mit ihm die eigene Demokratie-Bewegung der DDR. Ost-Oppositionelle wie Rainer Eppelmann, Markus Meckel, Konrad Weiß, Jens Reich - sie bekamen nie wirklich die Chance, ihre Landsleute adäquat mit den Anforderungen der parlamentarischen Demokratie vertraut zu machen. In der großen Unsicherheit danach wurde die DDR bald rosarot verklärt. Und Kowalczuk trifft ins Schwarze, wenn er über diese Verklärer schreibt:

Sie repräsentieren eine große ostdeutsche Mehrheit, die mit ihrer unverarbeiteten Diktatursozialisation weder die Vergangenheit verarbeitet, noch die Herausforderungen der repräsentativen Demokratie und die Kraft der Freiheit verarbeitet hat. Es gab keine Demokratie- und Freiheitsschulung im Osten. So etwas wie Re-Education in Westdeutschland fehlte.

Dringlicher Appell, viele eingeübte Denk-Schemata endlich abzustreifen

Umgekehrt hätten die meisten Westdeutschen nie begriffen, dass drei Vierteln der Ostdeutschen in den 90er Jahren der Boden unter den Füßen weggezogen worden sei: Mit ihrem vertrauten Arbeitsplatz verloren sie ihre gesamte gesellschaftliche Einbindung, den Großteil ihrer menschlichen Beziehungen. Kowalczuk hat völlig recht, wenn er feststellt, dass beide Seiten bis heute viel zu wenig voneinander wissen. Sein Buch Freiheitsschock ist da aber nur ein aktueller Problemaufriss. Um die Dimensionen genauer zu erfassen, sollte man auch zu Kowalczuks Buch Die Übernahme von 2019 greifen. Erst beide Bände zusammengenommen können wertvolle Denkanstöße liefern: indem sie Ost und West aufrütteln und an uns alle in Deutschland appellieren, viele eingeübte Denk-Schemata endlich abzustreifen.

Gespräch Ilko-Sascha Kowalczuk: „Wir brauchen wieder positivere Erzählungen in diesem Land“

Mit dem Mauerfall erlitten die Menschen in Ostdeutschland einen „Freiheitsschock“ – meint der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. Und nennt so sein neues Buch mit dem Untertitel „Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute“.

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Buchkritik Ilko-Sascha Kowalczuk - Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde

"Die durch die obrigkeitsstaatlichen Erfahrungen in einem langen historischen Prozess erfolgten Prägungen und Kulturen sind durch die Art und Weise der deutschen Vereinigung nicht nur nicht gebrochen worden - sie erwiesen sich sogar als förderlich für die Integration in das neue Gemeinwesen." Rezension von Conrad Lay. C.H.Beck Verlag ISBN 978-3-406-74020-6 319 Seiten 16,95 Euro

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