Samuel Beckett und der SDR

Beckett macht TV – eine wuchtige Ausstellung in Stuttgart feiert die Avantgarde-Medienkunst des Nobelpreisträgers

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Autor/in
Andreas Langen
Andreas Langen, Autor und Redakteur, SWR Kultur

Der Württembergische Kunstverein in Stuttgart zeigt die Fernsehspiele, die Samuel Beckett in den 1960er- bis 1980er-Jahren in den Studios des damaligen Süddeutschen Rundfunks (SDR) aufgenommen hat. Ko-Kurator und Medienkünstler Gerard Byrne: „Becketts Fernsehspiele sind ein historisches Erbe, das uns noch heute etwas zu sagen hat.“

Im Fernstudio des SDR in Stuttgart wurde Beckett ein anderer Mensch

Samuel Beckett war seltsam. So will es zumindest das Klischee: ein menschenscheuer Titan des Geistes, der angeblich keine Interviews gab, und der ja auch tatsächlich seiner eigenen Nobelpreisverleihung 1969 ferngeblieben war.

Nun aber zeigt eine Ausstellung im Württembergischen Kunstverein, dass es wenigstens einen Ort gab, an dem Beckett offenbar ein ganz anderer Mensch wurde: Stuttgart - genauer gesagt: die Fernsehstudios des damaligen Süddeutschen Rundfunks.

Samuel Beckett und Klaus Herm, Probe zu Geistertrio, 1977
Samuel Beckett und Klaus Herm, Probe zu Geistertrio, 1977.

Hier arbeitete Beckett sehr eng mit dem ganzen Team zusammen, und der Fernsehspiel-Chef Reinhart Müller-Freienfels wurde sein enger Vertrauter und kreativer Partner, erklärt Judith Wilkinson. Die Londoner Kunsthistorikerin ist Beckett-Spezialistin und hat für den Württembergischen Kunstverein eine ganz besondere Ausstellung kuratiert.

Becketts Fernsehspiele – düster und schockierend fremdartig

Zum ersten Mal sind hier an einem Ort die sieben Fernsehspiele zu sehen, die Beckett zwischen 1966 und 1985 mit und im SDR realisiert hat – angesichts des Zeitgeschmacks, der damals zwanghaft spaßige Spielshows wie „Vergiss mein Nicht“ und „Dalli, Dalli!“ zu Quotenhits machte, sind die düsteren, in strengem Schwarz-Weiß gedrehten Kammerspiele von Beckett schockierend fremdartig

Ein Mann sitzt allein in einem Raum
Der Film „Hey Joe“ von 1966, besteht aus einem einzigen Darsteller, allein in einem Raum.

Damals sei etwas möglich gewesen, das man sich heutzutage gar nicht mehr vorstellen könne, findet auch Iris Dressler, Leiterin des Kunstvereins: „dass tatsächlich in den 1960er-Jahren ein Fernsehsender so ein Experiment wagt, als eine Art Carte Blanche seine Stücke zu produzieren, die ja auch alles andere waren als was man heute fernsehtauglich nennen würde.“

Beckett hat im Grunde das Genre Videokunst erfunden

Der riesige White Cube des Kunstvereins ist in Düsternis getaucht und mit vier großen Würfeln bestückt – Kinos, in denen Becketts Filme auf großer Leinwand laufen. Einsame, verstummte Figuren schleppen sich in Zeitlupe durch karge Räume oder zappeln wie aufgezogenes Blechspielzeug; ein riesiger Mund rattert in höllischem Tempo eine unverständliche Wortkaskade herunter – Beckett hat mit seiner TV-Avantgarde im Grunde das Genre Video-Kunst erfunden, lange bevor es auch nur den Begriff gab.

Und er war dabei handwerklich extrem präzise, hat der Medienkünstler Gerard Byrne beobachtet, der für die Stuttgarter Ausstellung die Sender-Archive zu Beckett ausgewertet hat.

Beckett war komplett geerdet bei seiner Fernseh-Arbeit. Er war ein Praktiker, hat jedes Detail genau geplant. Es war, wie wenn ein Schreiner arbeitet.

Set Foto von „He Joe“, 1966
Die erste gemeinsame Produktion von Beckett und dem SDR war 1966 das Fernsehspiel He Joe, für das der Künstler selbst Regie führte.

Werke zu Fragestellungen, die heute immer noch aktuell sind

Gleichzeitig blieb der Handwerker Beckett ein hellwacher Beobachter der Zeitläufte. Seine zweite SDR-Produktion lief am 1. November 1977, zwei Wochen nachdem im Stuttgarter Vorort Stammheim die erste Generation der RAF gestorben war, und eine Woche, nachdem in der Kirche direkt gegenüber vom Kunstverein das Staatsbegräbnis für Hanns-Martin Schleyer stattgefunden hatte.

„Beckett wusste, was da vor sich ging“, erzählt Byrne, „er las täglich die Zeitung, und er war immer interessiert am Weltgeschehen.“

Porträt Samuel Beckett
Der irische Schriftsteller Samuel Barclay Beckett, 1977.

Becketts Fernsehstücke sind abstrakt und konstruiert, aber sie enthalten überraschend viele Bezüge zu aktuellen Fragestellungen. Überwachung, Kontrolle, Gesichtserkennung, körperlose Stimmen, das Ausgeliefertsein an anonyme Mächte.

Auch diese Zeitlosigkeit, sagt Gerard Byrne, machen Samuel Becketts Fernsehspiele zu großer Kunst: „Nach 40 Jahren hat uns das immer noch etwas zu sagen. Es zielt nicht auf einen Sendeabend. Diese Werke erreichen ein Publikum noch nach Jahrzehnten, bis heute.“

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