In seiner Tragikomödie „May December“ lässt Todd Haynes („I’m Not There“, „Carol“) die zwei Oscar-Preisträgerinnen in einem subtilen Zickenkrieg aufeinandertreffen. Das Lachen bleibt einem leicht im Hals stecken, denn im Grunde geht es um einen zur Liebesgeschichte verklärten MeToo-Fall.
Filmreife Skandalbeziehung
So wie sich die Schauspielerin Elizabeth (Natalie Portman) auf diese Rolle vorbereitet, wirkt es fast, als führe sie eine polizeiliche Ermittlung inklusive Tatortbesichtigung und Zeugenbefragungen durch. In ihrem nächsten Film soll sie Gracie spielen, eine Frau aus der amerikanischen Provinz.
Die echte Gracie (Julianne Moore) hatte vor zwanzig Jahre Schlagzeilen gemacht, weil sie mit 36 Jahren eine Affäre mit dem gerade mal 13-jährigen Joe begann. Dafür wanderte sie ins Gefängnis und bekam dort ein Kind. Nach ihrer Entlassung heirateten die beiden und bekamen zwei weitere Kinder. Jetzt soll der Skandal aus den 1990er-Jahren mit Elizabeth in der Hauptrolle verfilmt werden.
Julianne Moore und Natalie Portman in Höchstform
Für ein paar Tage begleitet Elizabeth das ungleiche Paar wie ein Schatten durch den Alltag. Der Highschool-Abschluss der beiden jüngeren Kinder steht bevor, Anspannung liegt in der Luft. Mit einem Notizblöckchen in der Hand beobachtet Elizabeth jede Regung von Gracie.
Doch die verschanzt sich hinter einem Lächeln aus Stahl. Julianne Moore und Natalie Portman laufen in „May December“ zu komödiantischer Hochform auf. Misstrauisch umschleichen sie einander, versuchen das Geheimnis der jeweils anderen zu ergründen und die Deutungshoheit über Gracies Geschichte zu erlangen. Gleichzeitig verschwimmen die Grenzen zwischen den beiden Frauen zusehends.
Der Film lebt von der Lust an der Überzeichnung
In mehreren zentralen Szenen arbeitet Regisseur Todd Haynes mit Spiegeln, die zeigen, wie verschachtelt das Spiel mit Selbstbild, Außendarstellung und Anverwandlung ist. Bald schon ähnelt Elizabeth Gracie nicht nur äußerlich. Sie übernimmt auch ihre Manierismen: legt den Kopf schief beim Reden, lächelt mädchenhaft und lispelt, wenn sie aufgeregt ist.
„May December“ lebt von der Lust an der Überzeichnung: plötzlich melodramatisch aufwallende Musik, überdeutliche Metaphern und ein seifenoperartiges Setting geben der Geschichte eine schräge Note.
Trailer „May December“, ab 30.5. im Kino
Perfekte Liebesgeschichte mit düsterem Metoo-Beigeschmack
Unter dieser unterhaltsamen Oberfläche lauert allerdings ein Abgrund: Das, was Gracie für ihr Umfeld als perfekte Liebesgeschichte inszeniert, gründet trotz allem auf sexuellem Machtmissbrauch.
Dieses düstere MeToo-Gefühl stellt sich ein, wenn Joe in den Fokus rückt. Charles Melton spielt ihn, als stecke in dem breitschultrigen Mann immer noch der traumatisierte 13-Jährige. Ein Spielball der beiden manipulativen Frauen, die auf seine Perspektive wenig Wert legen.
Wenn man ganz am Ende Elizabeth bei den Dreharbeiten zu jenem Film sieht, der der Geschichte von Joe und Gracie angeblich unbedingt gerecht werden sollte, ahnt man, dass aus diesem Vorhaben nichts geworden ist. Todd Haynes dagegen gestaltet „May December“ so offen, vielschichtig und widersprüchlich, dass der Film noch lange nachklingt.
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