Pionierin des Trickfilms

125 Jahre Lotte Reiniger: Als die Schattenfiguren laufen lernten

Stand
Autor/in
Dominic Konrad
Dominic Konrad, Autor und Redakteur bei SWR Kultur und SWR Musik

Filigrane Scherenschnitte, Märchengeschichten und ein bewegtes Künstlerinnenleben: Lotte Reiniger schrieb in den 1920er-Jahren als erste große Animationskünstlerin Deutschlands Filmgeschichte. Ihre Filme, allen voran der erste abendfüllende Animationsfilm „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“, verzaubern noch heute.

Lotte Reiniger an ihrem Animationstisch beim Ausrichten einer ihrer Figuren (1955)
Aus Transparentpapier, Bleiplatten und Karton schuf Lotte Reiniger Märchenwelten. Am 2. Juni 1899 wurde die große deutsche Animationskünstlerin in Berlin geboren.

Zwischen Märchen, Theater und Georges Méliès

Fantasiewelten haben sie immer gefesselt, auch schon als kleines Mädchen. Lotte Reiniger wird am 2. Juni 1899 in Charlottenburg geboren, sie verbringt ihre Kindheit als Einzelkind in gutbürgerlichem Hause.

Schon früh zeichnen sich ihre Leidenschaften ab: Freunde und Familie unterhält die kleine Lotte mit Papier- und Schattentheater und Scherenschnitten. Märchen sind ihr Lieblingssujet, das Kino liebt sie über alles, vor allem die Filmwelten von Georges Méliès.

Einmal habe sie als Siebenjährige im Kino bitterlich zu weinen angefangen, erinnert sich die betagte Künstlerin später, weil ein Film, den sie sehen wollte – ein Dornröschen-Film – im Lichtspielhaus nicht mehr aufgeführt wurde. Stolz sei sie gewesen, als die Betreiberinnen mit ihr Erbarmen hatten und den Film nochmal für eine Privatvorstellung am nächsten Vormittag bestellten.

Illustrationen von Lotte Reiniger: Aschenputtel ih ihrer Kutsche auf dem Weg zum Ball
„Ich glaube mehr an Märchen als an Zeitungen“, sagte Lotte Reiniger. In ihrem filigranen, vom Jugendstil und Expressionismus inspirierten Stil, adaptierte sie einige der größten Märchenklassiker der Brüder Grimm und von Hans-Christian Andersen.

Paul Wegener führt sie an den Animationsfilm heran

Ihre Liebe zum Film führt Lotte Reiniger zu Paul Wegener. In den 1910er-Jahren ist der Regisseur von „Der Golem“ und „Der Student von Prag“ einer der größten Namen im deutschen Film. Teilweise habe sie sich seine Filme im Kino dreimal täglich angesehen, erinnert sich Reiniger später.

Paul Wegener nahm sich meiner in der rührendsten Weise an.

Sie habe sich alles angesehen, wo Paul Wegener draufstand, so Reiniger. So habe sie in einem seiner Vorträge zum ersten Mal von der Kunst des Animationsfilms gehört. „Das ist der Mann, der alles weiß, was ich wissen möchte“, erzählt Reiniger in einem Interview „und ich muss irgendwie an diesen Mann herankommen“.

Reiniger landet als Statistin am Deutschen Theater und macht dort Bekanntschaft mit ihrem ihres Idol. In den Pausen sitzt sie in Wegeners Garderobe und zeigt ihm ihre Scherenschnitt-Karikaturen, die sie von den Leuten am Haus fertigt.

Lotte Reiniger: Scherenschnitt mit Papageno und Papagena
Neben den Märchen faszinierte Lotte Reiniger auch die Welt der Oper. Sie animierte Sequenzen aus Stücken wie „Die schöne Helena“, „Carmen“ und „Die Zauberflöte“. Vor allem den Vogelfänger Papageno und seine Papagena liebte die Künstlerin.

Erste Versuche mit eigenen Silhouettenfilmen

Wegener vermittelt die engagierte junge Frau ans Berliner Institut für Kulturforschung. Hier lernt Reiniger neben wichtigen Persönlichkeiten der Berliner Avantgarde wie Hans Cürlis und Bertold Brecht auch Carl Koch kennen, den sie 1921 heiratet und der bis zu seinem Tod auch im Kreativen ihr Partner bleiben wird.

Im Institut macht Reiniger ihre ersten Schritte im Bereich Trickfilm. Mit ihren Figuren lernt die Trickfilmerin laufen: Für Wegener animiert Reiniger 1918 die Ratten und die Zwischentitel für seinen Stummfilm „Der Rattenfänger von Hameln“. Im Jahr darauf folgt ihr erster eigener Film: „Das Ornament des verliebten Herzens“. Auch für Fritz Langs „Die Nibelungen“ animiert Reininger 1924 den Falken in einer Traumsequenz.

Der erste erhaltene Zeichentrick-Langfilm

Anfang der 1920er-Jahre animiert Lotte Reiniger mehrere kurze Märchenfilme. Für ihre Animationen nutzt sie einen von unten beleuchteten Tricktisch, ihre Silhouettenfiguren werden Aufnahme für Aufnahme weiterbewegt.

Zum Filmen entwickelt Reiniger die erste Multiplan-Kamera, mit der sie durch übereinanderliegende Platten ihrer Animation Tiefe verleihen kann. Später wird Walt Disney die Technik für seine Zeichentrickfilme, allen voran „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ (1937), weiterentwickeln.

Lotte Reiniger stellt ihre Multiplan-Kamera ein (1955)
Lotte Reiniger animiert ihre Filme zu Hause. Für die Trickfilmarbeit entwickelt sie eine erste, einfachere Version der Multiplan-Kamera, die später zum zentralen Instrument für die animierten Welten von Walt Disney wird.

Auch in einem weiteren Punkt ist Reiniger dem amerikanischen Trickfilmgiganten einen Schritt voraus: Mit „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ bringen sie und ihr Mann 1926 den ersten abendfüllenden Trickfilm ins Kino – mehr als zehn Jahre vor Disneys Märchenfilm.

Ausschnitte aus „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ (1926)

1926 Lotte Reiniger - "Die Abenteuer des Prinzen Achmed" (visual highlights)

„Prinz Achmed“ wird ein künstlerischer Erfolg

Die „Märchen aus 1001 Nacht“ haben Reiniger zu ihrem berühmtesten Film inspiriert. Im Film erlebt der Prinz mehrere Abenteuer: Er reitet auf einem Zauberpferd durch den Himmel, rettet die schöne Pari Banu aus den Fängen eines bösen Zauberers und hilft Aladin bei der Suche nach der Wunderlampe.

Ich glaube mehr an Märchen als an Zeitungen.

Das Berliner Publikum muss sich bei der Premiere von „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ zunächst an die Animationen gewöhnen. „Also wird man anfangs ein bisschen ermüdet. Allmählich aber wird man gefesselt und immer mehr begeistert, entzückt und entrückt“, lautet die Kritik im Filmkurier am 3. Mai 1926.

Der künstlerische Erfolg von „Prinz Achmed“ beflügelt Reiniger und öffnet ihr neue Türen. Für ihren nächsten Film „Dr. Doolittle und seine Tiere“ arbeitet sie mit den namhaften Komponisten Paul Dessau, Paul Hindemith und Kurt Weill zusammen. An die letzten Jahre der Weimarer Republik und die Filme, die in dieser Zeit entstanden, erinnert sich Reiniger später als die glücklichsten ihres Lebens.

BBC-Film „Das Zauberpferd“ (1954)

Das Zauberpferd / The Magic Horse (1954) / Ein Film von Lotte Reiniger

Unstete Jahre nach Hitlers Machtergreifung

Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kommen, beschließen Lotte Reiniger und Carl Koch Deutschland zu verlassen. Sie ziehen von Land zu Land und bleiben so lange, wie es ihnen ihre Visa erlauben.

Lotte Reiniger: Cherubino, die Gräfin und Susanna aus "Die Hochzeit des Figaro"
Über 140 Scherenschnitte widmet Lotte Reiniger Mozarts Opern, darunter diese Szene aus „Die Hochzeit des Figaro“

Reiniger arbeitet in dieser Zeit unter anderem mit Jean Renoir an dessen Film „La Marseillaise“ (1937), die Kriegsjahre verbringt sie bis 1944 bei Luchino Visconti in Rom. Dann kehrt sie nach Berlin zurück, um sich dort um ihre kranke Mutter. Auf Druck der Regierung arbeitet Reiniger an Propagandafilmen wie „Die goldene Gans“ von 1944.

1949 emigriert die Trickfilmerin nach London, wo sie im Auftrag der BBC zahlreiche Märchenfilme produziert. Auch als Illustratorin macht sie sich dort einen Namen.

„Aucassin et Nicolette“ (1975) gehört zu Reinigers letzten Filmen

Ihre letzten Jahre verbringt Reiniger bei Tübingen

In Deutschland geraten Lotte Reinigers Filme nach dem Krieg in Vergessenheit. Nach dem Tod von Carl Koch im Jahr 1963 und mit der Wiederentdeckung ihrer Filme entschließt sie sich, nach Deutschland zurückzukehren.

Ich lasse mich sehr gerne von meinen Figuren verführen.

In den 1970er-Jahren widmet sich Reiniger wieder vermehrt dem Scherenschnitt. Sie arbeitet an einem großen Zyklus über Mozarts Opern. Ihren letzten Film „Die vier Jahreszeiten“ realisiert Reiniger 1980, ein Jahr vor ihrem Tod.

Blick in die Ausstellung „Lotte Reiniger – Die Welt in Licht und Schatten“  im Stadtmuseum Tübingen
Lotte Reinigers künstlerischer Nachlass ist heute in der Dauerausstellung „Lotte Reiniger – Die Welt in Licht und Schatten“ im Tübinger Stadtmuseum zu besichtigen.

In ihren letzten Jahre lebt Lotte Reiniger zurückgezogen in Dettenhausen bei Tübingen. Hier stirbt die 82-jährige Animationspionierin am 19. Juni 1981. Ihre Kunstfertigkeit, ihre Kreativität und die handwerkliche Präzision ihrer mehr als 40 Filme inspirieren Künstlerinnen und Künstler und Filmschaffende bis heute.

Mehr über Animationsfilme

Internationales Trickfilm-Festival Stuttgart Vom Zeichentisch ins Kino: Das bewegt die Trickfilm-Branche

Wir blicken auf die Tricktische, Computermonitore, Stop-Motion-Sets und Zeichentablets der Filmschaffenden und begeben uns auf Suche nach den neuesten Trends der Trickfilm-Branche.

Alterswerk einer Anime-Legende „Der Junge und der Reiher“ von Hayao Miyazaki: Trauma des Abschiednehmens

Der 83-jährige Hayao Miyazaki meldet sich mit „Der Junge und der Reiher“ aus dem Ruhestand zurück. Ein Film, der sich dank seiner Poesi in die Reihe der besten Ghibli-Filme einfügt

Jubiläum des Trickfilmgiganten 100 Jahre Disney: Am Anfang stand die Innovation

Seinen Konkurrenten war Disney immer eine Nasenlänge voraus: Er erkannte und nutzte die technischen Entwicklungen seiner Zeit. Was bleibt vom Erfindungsgeist des Firmengründers?

Neu als Realserie „Avatar – Der Herr der Elemente“: Was Netflix mit dem Remake richtig macht

Netflix ist im Remake-Fieber: Bei „Avatar – Der Herr der Elemente“ dürften vor allem erwachsene Fans auf ihre Kosten kommen.

Stand
Autor/in
Dominic Konrad
Dominic Konrad, Autor und Redakteur bei SWR Kultur und SWR Musik