Zwischen Märchen, Theater und Georges Méliès
Fantasiewelten haben sie immer gefesselt, auch schon als kleines Mädchen. Lotte Reiniger wird am 2. Juni 1899 in Charlottenburg geboren, sie verbringt ihre Kindheit als Einzelkind in gutbürgerlichem Hause.
Schon früh zeichnen sich ihre Leidenschaften ab: Freunde und Familie unterhält die kleine Lotte mit Papier- und Schattentheater und Scherenschnitten. Märchen sind ihr Lieblingssujet, das Kino liebt sie über alles, vor allem die Filmwelten von Georges Méliès.
Einmal habe sie als Siebenjährige im Kino bitterlich zu weinen angefangen, erinnert sich die betagte Künstlerin später, weil ein Film, den sie sehen wollte – ein Dornröschen-Film – im Lichtspielhaus nicht mehr aufgeführt wurde. Stolz sei sie gewesen, als die Betreiberinnen mit ihr Erbarmen hatten und den Film nochmal für eine Privatvorstellung am nächsten Vormittag bestellten.
Paul Wegener führt sie an den Animationsfilm heran
Ihre Liebe zum Film führt Lotte Reiniger zu Paul Wegener. In den 1910er-Jahren ist der Regisseur von „Der Golem“ und „Der Student von Prag“ einer der größten Namen im deutschen Film. Teilweise habe sie sich seine Filme im Kino dreimal täglich angesehen, erinnert sich Reiniger später.
Sie habe sich alles angesehen, wo Paul Wegener draufstand, so Reiniger. So habe sie in einem seiner Vorträge zum ersten Mal von der Kunst des Animationsfilms gehört. „Das ist der Mann, der alles weiß, was ich wissen möchte“, erzählt Reiniger in einem Interview „und ich muss irgendwie an diesen Mann herankommen“.
Reiniger landet als Statistin am Deutschen Theater und macht dort Bekanntschaft mit ihrem ihres Idol. In den Pausen sitzt sie in Wegeners Garderobe und zeigt ihm ihre Scherenschnitt-Karikaturen, die sie von den Leuten am Haus fertigt.
Erste Versuche mit eigenen Silhouettenfilmen
Wegener vermittelt die engagierte junge Frau ans Berliner Institut für Kulturforschung. Hier lernt Reiniger neben wichtigen Persönlichkeiten der Berliner Avantgarde wie Hans Cürlis und Bertold Brecht auch Carl Koch kennen, den sie 1921 heiratet und der bis zu seinem Tod auch im Kreativen ihr Partner bleiben wird.
Im Institut macht Reiniger ihre ersten Schritte im Bereich Trickfilm. Mit ihren Figuren lernt die Trickfilmerin laufen: Für Wegener animiert Reiniger 1918 die Ratten und die Zwischentitel für seinen Stummfilm „Der Rattenfänger von Hameln“. Im Jahr darauf folgt ihr erster eigener Film: „Das Ornament des verliebten Herzens“. Auch für Fritz Langs „Die Nibelungen“ animiert Reininger 1924 den Falken in einer Traumsequenz.
Der erste erhaltene Zeichentrick-Langfilm
Anfang der 1920er-Jahre animiert Lotte Reiniger mehrere kurze Märchenfilme. Für ihre Animationen nutzt sie einen von unten beleuchteten Tricktisch, ihre Silhouettenfiguren werden Aufnahme für Aufnahme weiterbewegt.
Zum Filmen entwickelt Reiniger die erste Multiplan-Kamera, mit der sie durch übereinanderliegende Platten ihrer Animation Tiefe verleihen kann. Später wird Walt Disney die Technik für seine Zeichentrickfilme, allen voran „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ (1937), weiterentwickeln.
Auch in einem weiteren Punkt ist Reiniger dem amerikanischen Trickfilmgiganten einen Schritt voraus: Mit „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ bringen sie und ihr Mann 1926 den ersten abendfüllenden Trickfilm ins Kino – mehr als zehn Jahre vor Disneys Märchenfilm.
Ausschnitte aus „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ (1926)
„Prinz Achmed“ wird ein künstlerischer Erfolg
Die „Märchen aus 1001 Nacht“ haben Reiniger zu ihrem berühmtesten Film inspiriert. Im Film erlebt der Prinz mehrere Abenteuer: Er reitet auf einem Zauberpferd durch den Himmel, rettet die schöne Pari Banu aus den Fängen eines bösen Zauberers und hilft Aladin bei der Suche nach der Wunderlampe.
Das Berliner Publikum muss sich bei der Premiere von „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ zunächst an die Animationen gewöhnen. „Also wird man anfangs ein bisschen ermüdet. Allmählich aber wird man gefesselt und immer mehr begeistert, entzückt und entrückt“, lautet die Kritik im Filmkurier am 3. Mai 1926.
Der künstlerische Erfolg von „Prinz Achmed“ beflügelt Reiniger und öffnet ihr neue Türen. Für ihren nächsten Film „Dr. Doolittle und seine Tiere“ arbeitet sie mit den namhaften Komponisten Paul Dessau, Paul Hindemith und Kurt Weill zusammen. An die letzten Jahre der Weimarer Republik und die Filme, die in dieser Zeit entstanden, erinnert sich Reiniger später als die glücklichsten ihres Lebens.
BBC-Film „Das Zauberpferd“ (1954)
Unstete Jahre nach Hitlers Machtergreifung
Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kommen, beschließen Lotte Reiniger und Carl Koch Deutschland zu verlassen. Sie ziehen von Land zu Land und bleiben so lange, wie es ihnen ihre Visa erlauben.
Reiniger arbeitet in dieser Zeit unter anderem mit Jean Renoir an dessen Film „La Marseillaise“ (1937), die Kriegsjahre verbringt sie bis 1944 bei Luchino Visconti in Rom. Dann kehrt sie nach Berlin zurück, um sich dort um ihre kranke Mutter. Auf Druck der Regierung arbeitet Reiniger an Propagandafilmen wie „Die goldene Gans“ von 1944.
1949 emigriert die Trickfilmerin nach London, wo sie im Auftrag der BBC zahlreiche Märchenfilme produziert. Auch als Illustratorin macht sie sich dort einen Namen.
„Aucassin et Nicolette“ (1975) gehört zu Reinigers letzten Filmen
Ihre letzten Jahre verbringt Reiniger bei Tübingen
In Deutschland geraten Lotte Reinigers Filme nach dem Krieg in Vergessenheit. Nach dem Tod von Carl Koch im Jahr 1963 und mit der Wiederentdeckung ihrer Filme entschließt sie sich, nach Deutschland zurückzukehren.
In den 1970er-Jahren widmet sich Reiniger wieder vermehrt dem Scherenschnitt. Sie arbeitet an einem großen Zyklus über Mozarts Opern. Ihren letzten Film „Die vier Jahreszeiten“ realisiert Reiniger 1980, ein Jahr vor ihrem Tod.
In ihren letzten Jahre lebt Lotte Reiniger zurückgezogen in Dettenhausen bei Tübingen. Hier stirbt die 82-jährige Animationspionierin am 19. Juni 1981. Ihre Kunstfertigkeit, ihre Kreativität und die handwerkliche Präzision ihrer mehr als 40 Filme inspirieren Künstlerinnen und Künstler und Filmschaffende bis heute.