Die Tragikomödie „Kleine schmutzige Briefe“ erzählt nach wahren Begebenheiten von einem Skandal um Schmähbriefe, die Anfang der 1920er-Jahre ein englisches Städtchen in Atem hielten. Regisseurin Thea Sharrock zeichnet das Bild einer scheinheiligen und frauenfeindlichen Gesellschaft, unter deren Oberfläche es kräftig brodelt.
Bis das Kreuz an der Wand wackelt
Im England der frühen 1920er-Jahre gilt Edith Swan als der Inbegriff einer anständigen Frau: stets gibt sie sich sittsam und bescheiden, liest viel in der Bibel und gehorcht ihrem Vater, in dessen Haus sie auch mit über 40 noch lebt. Und doch bekommt die brave Edith plötzlich einen obszönen Brief nach dem anderen.
Anonym natürlich, verfasst in geschwungener Schönschrift. Der Verdacht fällt schnell auf Nachbarin Rose: eine alleinerziehende Mutter, die gerne flucht, trinkt und nachts so heftig Sex hat, dass im Schlafzimmer der Swans das Kreuz an der Wand wackelt. Die Polizei verhaftet die junge Frau und vernimmt Edith als Zeugin.
Eine unangepasste junge Frau mundtot machen
Olivia Colman spielt Edith als alte Jungfer, die angesichts der anstößigen Briefe zwar schamvoll die Augen senkt, die öffentliche Aufmerksamkeit aber auch sichtlich genießt. Immer wieder huscht ein Leuchten über ihr Gesicht, etwa wenn sie berichtet, dass sie in der Zeitung war.
Während der Großteil der Gesellschaft für Edith Partei ergreift, glaubt eine nicht, dass Rose die Briefe geschrieben hat: Gladys Moss, die erste weibliche Polizeibeamtin der Stadt. Sie hat in ihrem Job selbst mit Sexismus zu kämpfen und durchschaut, dass mit Rose eine zu laute, unangepasste Frau mundtot gemacht werden soll.
Schräger historischer Kriminalfall
Die Geschichte um die bizarren Schmutzbriefe, die an eine Vielzahl von Menschen in Littlehampton gingen, ist wahr. Anfang der 1920er rätselte ganz England mit, wer sie verfasst haben könnte. Doch Regisseurin Thea Sharrock geht es in ihrer Tragikomödie um mehr als einen schrägen historischen Kriminalfall. Anhand des Kleinstadt-Skandals entwirft sie das Bild einer scheinheiligen, reaktionären und zutiefst frauenfeindlichen Gesellschaft.
Die Beispiele der drei sehr unterschiedlichen Frauen Edith, Rose und Gladys zeigen, wie das Patriarchat versucht, Frauen kleinzuhalten, weibliche Solidarität zu verhindern und die aufkommende Frauenbewegung im Keim zu ersticken. Trotz seines ernsten Themas wählt das Drehbuch von Comedian Jonny Sweet einen leichten Ton. Mit bösem Witz, schnellen Dialogen und der befreienden Kraft des Fluchens rückt er der repressiven Nachkriegsgesellschaft auf den Leib.
Die Botschaft: weibliche Solidarität besiegt das stumpfe Patriarchat
Vieles in „Kleine schmutzige Briefe“ wirkt stark überzeichnet, und manche Wendung kommt allzu absehbar um die Ecke geschnauft. Insgesamt ist es aber ein Film, der Spaß macht – nicht zuletzt dank des spielfreudigen Ensembles um Olivia Colman, Jessie Buckley und Anjana Vasan.
Am Ende steht der Sieg weiblicher Solidarität gegen das stumpfe Patriarchat. Und die Erkenntnis, dass anonyme Hassbotschaften und öffentliche Cancel Culture sehr viel älter sind als die sozialen Medien.
Trailer „Kleine schmutzige Briefe“, ab 28.3. im KIno
Mehr aktuelle Filme
Filmkritik Eine Bibliothek der Welt – Davide Ferrarios Dokumentarfilm über Umberto Ecos Privatbibliothek
Regisseur Davide Ferrario entführt in seinem Dokumentarfilm „Umberto Eco – Eine Bibliothek der Welt“ in die verwinkelten Gänge von Umberto Ecos Privatbibliothek, wo sich über 30.000 zeitgenössische und 1.500 antike Bücher wie Schätze aneinanderreihen, und in einen magischen Kosmos des Wissens und der Erinnerungen einladen.
Filmkritik „Die Missetäter“ – Argentinisches Drama um Bankräuber und Doppelgänger
Der humorvolle Bankräuberfilm beginnt mit einem ungewöhnlichen Raub: Morán erleichtert die Bank um 600.000 Dollar, bei der er selbst leitender Angestellter ist. Er weiß, dass er gefasst wird, findet aber die kalkulierten dreieinhalb Jahre Gefängnis angenehmer als 25 Jahre langweiligen 9-to-5-Job in der Sparkasse . „Die Missetäter“ („Los delincuentes“) von Rodrigo Morenos war argentinischer Oscar-Kandidat 2024.
Verfilmung des Romanbestsellers Franz Kafkas letzte Liebe: „Die Herrlichkeit des Lebens“ mit Sabin Tambrea und Henriette Confurius
Henriette Confurius und Sabin Tambrea – zwei der aufregendsten deutschen Gegenwartsschauspieler – überzeugen in der Verfilmung des Romans über Kafkas letzte Liebe von Michael Kumpfmüller: Der schon kranke 40-jährige Kafka lernt im Sommer 1923 die 25-jährige Dora an der Ostsee kennen.