Der Fokus liegt auf Produktionen aus der Ukraine, Polen und Tschechien. Orte, an denen Theater mehr ist als Bühne. Es ist Widerstand. Das Festival solle eine Bühne für Stimmen sein, die gehört werden müssen. Theater dürfe sich nicht nur mit sich selbst beschäftigen, sondern müsse sich einmischen, sichtbar machen, was andernorts zum Schweigen gebracht werden soll.
Stuttgart wird so zum Ort des Austauschs über Fragen, die nicht bequem sind, über die Rolle von Kunst in politisch brisanten Zeiten. Das Festival will zeigen, dass die Freiheit der Kunst kein abstraktes Thema ist. Sondern eines, das uns alle betrifft.
- Elizabeth Costello – Zweifel als Haltung
- Diptychon 1918/2022 – Zwei Zeiten. Ein Trauma.
- Die Hexe von Konotop – Groteske mit Botschaft
Theater als Resonanzraum gesellschaftlicher Krisen
In Ländern mit eingeschränkter Pressefreiheit ist Theater oft gefährlich und widerspricht, wo man schweigen soll. Es zeigt, was nicht gezeigt werden darf. Für viele Künstler*innen bedeutet das Risiko. Wer Unbequemes auf die Bühne bringt, lebt nicht ungefährdet. Das Festival in Stuttgart möchte diesen Mut würdigen und gibt diesen Stimmen Raum bei einem westlichen Publikum, das meist aus sicherer Entfernung schaut.
Im Interview mit SWR Kultur erinnert der Intendant des Schauspiels Stuttgart Burkhard Kosminski daran, dass etwa in Ungarn zuletzt ein Gastspiel kurzfristig abgesagt wurde, nachdem die neue Intendanz von der politischen Ausrichtung des Festivals erfahren hatte.
„Man muss einfach sehen, dass Ungarn extrem bedroht ist“, sagt er. Auch in Polen sei trotz Regierungswechsel der Einfluss autoritärer Kräfte in vielen Landesteilen nach wie vor spürbar.
Doch auch bei uns könnte die Freiheit in Gefahr sein: Mit dem Aufstreben rechter Kräfte wächst neben dem ökonomischen, auch der politische Druck. Theater kann im Vorfeld zum Spiegel der Gesellschaft werden, um über sich selbst und unsere gemeinsame Zukunft nachzudenken. Drei Inszenierungen stechen beim Festival in Stuttgart in dieser aktuellen Fragestellung hervor.
Elizabeth Costello – Zweifel als Haltung

Die Inszenierung von Krzysztof Warlikowski denkt nach: über Tierleid, das Altern, die Wahrheit und die Verantwortung. Warlikowskis Abend ist keine einfache Kost, aber auch kein kunstvoll verschlüsseltes Rätsel. Es lädt die Zuschauenden eher zum Mitdenken ein.
Stuttgart ist der einzige Ort in Deutschland, an dem man diese international gefeierte Produktion sehen kann. Kosminski freut sich, mit Warlikowski einen der „bedeutendsten europäischen Regisseure“ nach Stuttgart geholt zu haben. Die Aufführung war zuletzt in Avignon, Paris, Barcelona und Warschau zu sehen – nun erstmals in Deutschland.
Diptychon 1918/2022 – Zwei Zeiten. Ein Trauma.

Zwei Stücke, zwei Epochen, eine Botschaft. Regisseur Dušan David Pařízek bringt Remarques Romanklassiker „Im Westen nichts Neues“ mit dem ukrainischen Stück „Grüne Korridore“ zusammen und lässt dabei Vergangenheit auf Gegenwart treffen: Erster Weltkrieg trifft Ukrainekrieg.
Was entsteht, ist mehr als ein Vergleich: Es ist ein Gespräch über Wiederholung, Traumata und über das, was wir hätten lernen sollen, aber nicht gelernt haben. Auch die Form ist klar: Reduktion, mit einem leeren Raum und wenigen Requisiten. Was bleibt sind etwa Fragen, wie wir Krieg erzählen und wie beeinflusst das ist, was wir glauben?
Die Hexe von Konotop – Groteske mit Botschaft

Das Ivan-Franko-Theater aus Kiew bringt eine Satire auf die Bühne. „Die Hexe von Konotop“ ist ein Klassiker der ukrainischen Literatur. Dabei fahndet ein Richter nach einer Hexe und alles gerät außer Kontrolle. Volkstheater trifft hier auf Kritik, denn zwischen Tanz, Musik und Humor stecken ernste Mahnungen: Wie leicht wir uns in Angst verlieren, wie gefährlich Aberglaube sein kann und wie schnell Macht missbraucht wird.
Die Aufführung ist ein klares Bekenntnis: zur kulturellen Eigenständigkeit der Ukraine. Kosminski nennt die Produktion „ein ukrainisches Theaterwunder“. Seit der Premiere im April 2023 sei sie durchgehend ausverkauft. Besonders bewegend sei ein Moment bei einer Aufführung in Berlin gewesen, als das Publikum überwiegend aus ukrainischen Frauen bestand. „Da war der Krieg plötzlich mitten in Berlin“, sagt er.
Ein neuer Akzent in der europäischen Festivallandschaft
Theaterfestivals gibt es viele: Avignon, Wien, Amsterdam und natürlich Berlin. Sie zeigen vor allem neben Vielfalt große und berühmte Namen. Das Festival in Stuttgart ist anders. Es ist kleiner, konzentrierter und hat ein klares Thema: Freiheit. Keine Leistungsschau, sondern eher ein kuratiertes Statement.
Stuttgart versteht sich nicht als Konkurrenz zu den großen Festivals, sondern als Ergänzung, die neue Perspektiven sichtbar macht. Wenn das Festival weitergeführt wird, könnte es ein Ort werden, an dem Theater ganz bewusst Haltung zeigt.
Kosminski sagt: „Wir müssen alle – in Europa, aber auch jeder für sich – sagen: Ich will etwas dafür tun, dass Demokratie und Freiheit erhalten bleiben.“ Vielleicht ist genau das sein Platz: Zwischen den Großen mit dem klaren Willen, zuzuhören – auch jenen, die sonst überhört werden.