1987 reist die spätere Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller aus Rumänien nach West-Deutschland. Ihre erste Station: Das Auffanglager Nürnberg-Langwasser. Anderthalb Jahre wird sie dort bleiben müssen, bis sie ihren Deutschen-Pass erhält. Beamte verhören sie, unterstellen ihr, sie sei eine Agentin der Ceauşescu-Diktatur. Von dieser Zeit erzählt sie in „Der Beamte sagte“.
Ein Mensch flieht und landet in einem Auffanglager. Das ist das Schicksal von Millionen, das war auch das Schicksal von Herta Müller.
HINTER allen Straßen DAS
Auffanglager Langwasser
AUSSEN himmelhohe Schachtel.
INNEN Kaserne Mischung
aus Kasten und Ferne
Eine Erzählung im Collagen-Stil
Von ihrer Zeit im Auffanglager erzählt Herta Müller in „Der Beamte sagte“. Die Wörter für diese Geschichte hat sie aber nicht getippt, sie musste sie erst finden: Aus Zeitungen und Zeitschriften hat sie sie ausgeschnitten und gesammelt. Die Fundstücke dann in mühsamer Kleinarbeit auf weiße Karten gelegt, zu Sätzen geformt und festgeklebt.
„Der Beamte sagte“ ist eine Erzählung im Herta Müller’schen Collagen-Stil. Die Wörter sind mal kursiv, mal in Farbe, in Großbuchstaben und in den unterschiedlichsten Schriftarten. Satzzeichen gibt es keine, außer es klebt noch ein Punkt oder ein Komma hinter einem ausgeschnittenen Wort. Jede der 161 Seiten ist eine solche Collage, jede von ihnen eine kleine Geschichte für sich:
Vor dem Auffanglager schaukelte EINE Laterne
HIER Lag DER Nachtschnee schwindlig WEISS drapiert
ALS käme ER VON DORT
WO DAS Leben
DEN Faden verliert
Im Lager wird die Erzählerin von den Beamten verhört: Erst vom Beamten von der Prüfstelle A, der ihr unterstellt, sie wolle also in ihrem Land die Regierung stürzen.
Dann der Beamte von der Prüfstelle B, „der sogenannte Herr Fröhlich“, der sich fragt, ob sie wirklich wegen politischer Verfolgung geflohen sei. Denn warum sollte der Sozialismus sie gewollt haben, wenn sie ihn nicht gewollt habe, fragt er sie.
Und dann gibt es noch den Beamten, der wie ein großer Vogel mit den Armen wackelt und dabei Oh oh oh ruft:
Der Beamte
mit dem OH OH OH fragte
AB welchem TAG ich ein Staatsfeind war. ICH sagte
Sie glauben, jahrelang fängt
plötzlich an einem
Montag AN
Absurde Verhöre durch BND und Verfassungsschutz
2013 hat Herta Müller in einem Essay für den SPIEGEL darüber geschrieben, wie absurd diese Verhöre im Auffanglager Langwasser gewesen seien. In Nürnberg galt sie als Agentin der Ceauşescu-Diktatur. Der BND verhörte sie, und der Verfassungsschutz warnte, ihr Leben sei in Gefahr durch die Securitate.
Herr Fröhlich, das sei der Name des Verfassungsschützers gewesen. Er soll zu Herta Müller gesagt haben: Sie müssten sich entscheiden, ob Herta Müller Agentin oder Verfolgte ist, beides zusammen gehe nicht:
Der Beamte fragte nacheinander
- Sie WUSSTEN IMMER was Sie
SIND ICH sagte JA - DAS
heißt doch, Sie WOLLTEN
Staatsfeind sein
ICH sagte NEIN - Sie hatten aber
konkret NICHTS dagegen ICH sagte
so kann MAN nicht reden.
In Großbuchstaben ragt das Wort „Ich“ in den Verhör-Szenen aus den Collagen. Das Wort „Beamte“ sieht schon von der Typografie her aus wie ein Bürokrat. Die Schrift ist schwarz, die Buchstaben gerade und ordentlich, während das „Ich“ der Erzählerin in zahlreichen Variationen vorkommt: Mal wie mit Buntstift oder Tinte aufs Papier gekrakelt, mal leuchtend orange oder auf hellblauem Grund.
Jedes aufklebte Wort trägt nicht nur zur großen Erzählung etwas bei, es trägt auch eine kleine Geschichte in sich. Sie geben den Seiten einen Rhythmus, setzen Akzente und springen einem entgegen.
Eine mehrschichtige Bildsprache der Typographie
Die Collagen erzählen vom Überfluss des Materials und der Worte im Westen. Sie erinnern aber auch an anonyme Drohbriefe oder Flugblätter und erzählen damit von Unsicherheit, von der Bedrohung aus der Heimat, die man hinter sich gelassen hat.
„Der Beamte sagte“ handelt aber nicht nur von den Verhören, sondern auch von der Zeit dazwischen. Vom Schnee und von dem Café, in dem sich die anderen Heimatlosen mit ihrem Heimweh treffen. Von den Träumen der Erzählerin, in denen ihr Vater wieder Soldat ist und ihre Mutter sie zu sich nach Hause ruft. Und davon, wie sie ein Brief erreicht: Ihr engster Freund ist tot, er wurde erhängt im Badezimmer gefunden.
Verlust ist eine FALLE
kein Gefühl mir fehlte
ALLES ich war MIR
zu viel
Seit mehr als 30 Jahren macht Herta Müller ihre Wort-Collagen. Erst waren es Grußpostkarten, die sie verschickte, dann wurden sie zu „Gedichtbildern“. Müller selbst bleibt lieber ganz schlicht bei der Bezeichnung „Collage“. Jetzt mit „Der Beamte sagte“ erscheint zum ersten Mal eine Erzählung, in der diese Collagen inhaltlich zusammenhängen.
Und trotzdem verlieren sie nichts von ihrer eigentümlichen Herta Müller-Poesie, sie gewinnen viel mehr: Jede Collage ist zart komponiert, und erzählt doch gleichzeitig vom Schmerz und von der Angst der Exilantin. „In jedem Wort bleibt ein Rest von Dort“ heißt es gegen Ende. Diesen Rest will der Beamte aus der Schutzsuchenden rausholen, einordnen und abheften und doch wird er ihn nie begreifen können.
Und so ist dieser kleine Band auch eine Aufforderung zu mehr Mitmenschlichkeit und dazu, Anteil zu nehmen am Schicksal der Menschen, die bei uns Schutz suchen müssen.