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Jugendliche im Nationalsozialismus – Erziehung zum "Herrenmenschen"

Stand
Autor/in
Andreas Hauber
Onlinefassung
Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

Ab 1939 waren fast alle Jugendlichen im Deutschen Reich bei der Hitlerjugend. Die NS-Indoktrination war Staatssache. Die Jugend sollte sich für Hitler opfern – am besten freiwillig.

Schwäbische Hitlerjungen werden in den letzten Kriegswochen zu Verrätern

In dem kleinen, schwäbischen Ort Brettheim hindern im April 1945 couragierte Bürger vier Hitlerjungen daran, sich den anrückenden Amerikanern entgegenzustellen. Die Hitlerjungen werden entwaffnet und von den Leuten aus dem Dorf vertrieben.

Nachdem die Hitlerjungen daran gehindert werden, sich dem Gegner entgegenzustellen, verraten sie die, die ihnen damit eigentlich das Leben retten wollen. Am Ende werden neben dem Brettheimer Friedrich Hanselmann, der federführend die Hitlerjungen entwaffnet hatte, der Bürgermeister Leonhard Gackstatter und der NS-Ortsgruppenleiter Leonhard Wolfmeyer zum Tode verurteilt. Am Abend des 10. April werden sie auf dem Brettheimer Friedhof erhängt.

Berichte wie dieser aus den letzten Tages des Zweiten Weltkriegs über Jugendliche, die sich für "ihren Führer" in aussichtslose Kämpfe mit den Alliierten stürzten, irritieren heute besonders. Wieso waren bereits junge Menschen so überzeugte Nationalsozialisten?

Die Schulen sind für die NS-Erziehung ein zentraler Ort

In seiner "Ansprache an die Jugend" betont Adolf Hitler am 10. September 1938 die Bedeutung der nationalsozialistischen Indoktrination:

"Durch die Erziehung, und nur durch sie allein, können wir das Volk uns schaffen, dessen wir benötigen und dessen jene benötigen, die nach uns Geschichte gestalten wollen."

Sechs Kinder bei Hitlers 50. Geburtstag. Zwei der Jungen tragen die Uniform der Hitlerjugend. In der NS-Erziehung soll vor allem die Jugend von Grund auf geformt werden.
Sechs Kinder bei Hitlers 50. Geburtstag. Zwei der Jungen tragen die Uniform der Hitlerjugend. In der NS-Erziehung soll vor allem die Jugend von Grund auf geformt werden.

Bereits 1936 sind 97 Prozent der Lehrkräfte im NS-Lehrerbund organisiert

Die Schulen sind für die NS-Erziehung ein zentraler Ort. Es gelingt den Nationalsozialisten recht früh, die Lehrerverbände im neu gegründeten NS-Lehrerbund zusammenzufassen. 1936 sind 97 Prozent aller Lehrkräfte dort Mitglied. Die Schulen sind, zumindest formal, als staatliche Organisationen fest in nationalsozialistischer Hand. Hier ist der Einfluss des Staates allgegenwärtig.

Feindbilder in den Schulen der NS-Erziehung

Ein zentrales Element der Ideologie und somit auch der Lehrpläne in den Schulen ist es, sich von unerwünschten Gesellschafts-Gruppen abzugrenzen und sich über sie zu stellen.

Die "echten deutschen" Jugendlichen sollen lernen, dass sie als Arier von Natur aus besser sind als andere. Die, die die nicht ins Bild passen, werden zu Feinden erklärt. Dem abgelehnten und abgewerteten Anderen wird ein überhöhtes Selbst entgegengesetzt.

Mit 10 Jahren ins Jungvolk, mit 14 in die Hitlerjugend

1926 war die Hitlerjugend als Unterorganisation der SA gegründet worden mit dem Ziel, Jugendliche für den Straßenkampf zu rekrutieren, erklärt Historiker André Postert. Bei Hitlers Machtergreifung 1933 hat die Hitlerjugend gerade einmal etwa 100.000 Mitglieder. Die Konkurrenz ist groß im Vergleich zu konfessionellen, protestantischen oder katholischen Jugendorganisationen, so Postert.

Die Konkurrenz zu etablierten Jugendorganisationen macht die Hitlerjugend durch Zwangsüberführung und Privilegien wett
Die Konkurrenz zu etablierten Jugendorganisationen macht die Hitlerjugend durch Zwangsüberführung und Privilegien wett

Auch die sogenannten "Bündischen Jugendorganisationen", die vor allem aus dem Wandervogel, einer Bewegung der 1920er-Jahre, hervorgegangen waren, sind der Hitlerjugend, kurz HJ, weit voraus. Erst nach 1933 bekommt die HJ einen Wachstumsschub, auch durch Zwangsüberführung, so André Postert.

Privilegien im Alltag für Hitlerjugend

Aber auch wenn die Nazis alle anderen Jugendverbände auflösen oder verbieten: In die Hitlerjugend werden Mädchen und Jungs zumindest pro forma nicht gezwungen. Sie sollen möglichst freiwillig mitmachen. Weil nicht so viele Jugendliche eintreten wie erhofft, helfen die Nationalsozialisten schließlich nach. Wer HJ-Mitglied ist, bekommt im Alltag Privilegien – beispielsweise Zugang zu Sportvereinen. Es sei auch davon auszugehen, dass viele Eltern ihre Kinder nur in die HJ schickten, um nicht aufzufallen.

Weltanschauliche Schulung am Mittwoch, Leibesertüchtigung am Samstag

In der Hitlerjugend gibt es zwei feste Termine in der Woche. Der Mittwochnachmittag ist für die "weltanschauliche Schulung" vorgesehen, der Samstag für den Sport. Leibesertüchtigung ist ganz wichtig für die Nationalsozialisten. Hitler selbst stellt in seinem Buch "Mein Kampf" den Sport in das Zentrum aller Erziehung.

NS-Propaganda in der Schule

Im Klassenzimmer wird die neuste Technik an Filmapparaten eingesetzt, um Propagandafilme wie "Hitlerjunge Quex" aus dem Jahr 1933 an allen Schulen zu zeigen, sicherlich auch in Brettheim. Aber nicht nur die bewegten Bilder spielen eine wichtige Rolle für die NS-Indoktrination. Fotos von uniformierten, strammstehenden Jungen oder von traditionell gekleideten Mädchen, die im Reigen tanzen, werden zu Propagandazwecken verbreitet.

Propaganda-Bilder vermitteln oft den Eindruck, praktisch alle Jugendlichen seien mit Begeisterung Hitlerjunge oder beim Bund Deutscher Mädel gewesen
Propaganda-Bilder vermitteln oft den Eindruck, praktisch alle Jugendlichen seien mit Begeisterung Hitlerjunge oder beim Bund Deutscher Mädel gewesen

Heute, meinen Fachleute, müssten wir aufpassen, nicht wieder auf die Nazi-Propaganda hereinzufallen. Die Fotos vermittelten oft den Eindruck, praktisch alle Jugendlichen seien mit Begeisterung Hitlerjunge oder beim Bund Deutscher Mädel gewesen.

Die Hitlerjugend als überforderte Organisation

Für den Historiker André Postert ist die Hitlerjugend eine überforderte Organisation. Die hauptamtliche Decke ist sehr dünn, der größte Teil wird von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ehrenamtlich organisiert. Und als immer mehr Organisationen gleichgeschaltet werden, wird die Hitlerjugend ihrer Mitglieder kaum noch Herr. Das Netz bekommt Löcher.

Überwiegend in den Großstädten entstehen so subkulturelle Gruppierungen: Die Swing-Jugend in Norddeutschland, die Meuten, Cliquen, Broadway-Gangster, die Edelweißpiraten. Gruppen, die sich nicht anpassen, die sich teilweise Prügeleien mit der Hitlerjugend liefern und Widerstand leisten.

Karriere der Ehemaligen aus der Hitlerjugend

Die Hitlerjugend wird am 10. Oktober 1945 zusammen mit allen anderen der NSDAP angeschlossenen Organisationen durch das Kontrollratsgesetz Nr. 2 verboten und aufgelöst. Ehemalige Verantwortliche der HJ machen, wie etliche andere Nazigrößen, auch in den beiden neuen deutschen Staaten Karriere.

Die Liste ist lang. Sehr viel schwerer festzustellen und bis heute ein Thema für die Forschung ist, wie stark der anerzogene Geist, die Behauptung vom Herrenmenschentum in denen fortlebte, denen die Nazi-Ideologie von Kind an eingehämmert worden war.

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