Film: Reichwein nutzt modernstes Medium der 1930er-Jahre im Unterricht
Der Widerstandskämpfer und Reformpädagoge Adolf Reichwein entwickelte bereits in den 1930er-Jahren wegweisende Konzepte für das, was wir heute Mediendidaktik nennen.
Damals ging es nicht um digitale Technik wie Tablets oder Smartphones. Das modernste Medium zu jender Zeit war der Film. Der Filmprojektor stellte, wie Adolf Reichwein in einem Aufsatz von 1938 schrieb, auch den Lehrer vor ganz neue Herausforderungen:
"Es steht mit einem Male ein Gerät vor ihm, das mit der Neuigkeit seiner Sprache und Wirkung ein völlig neues Durchdenken der Unterrichtsprobleme fordert. Er wird sich mit ihm befreunden müssen. Es meldet sich einfach, ohne ihn zu fragen, zur Stelle." (Adolf Reichwein)
Kinder sollen selbsttätig und selbständig werden
Adolf Reichwein war zwar nicht der erste, der für den Einsatz von Filmen im Unterricht plädierte. Sicher war er aber ein besonders experimentierfreudiger Pädagoge, der für alles Neue offen war. Er stand in der Tradition der Reformpädagogik. Er folgte Ansätzen wie sie zum Beispiel Berthold Otto vertrat, der in Berlin 1906 eine Schule gründete, die die starre Einteilung in Unterrichtsfächer aufhob und statt Jahrgangsklassen ein Kurssystem einführte.
In seiner Schrift „Film in der Landschule“ folgt Reichwein ausdrücklich Berthold Ottos Erziehungsgedanken:
"Wir möchten eine „Nation von Selbstdenkern“ werden! Was Otto damit zum Ziele setzt, kann nur durch Erziehung geleistet werden, die das Kind als selbsttätiges gewähren lässt und auf dem Weg gesteigerten Könnens bis zur Schwelle der Selbständigkeit, ja in glücklichen Fällen über diese Schwelle hinausführt." (Adolf Reichwein)
Adolf Reichweins Karriere bis zu Hitlers Machtergreifung 1933
Wer war der Mann, der viele Ansätze moderner Medienpädagogik vorwegnahm – und das in einer Zeit, als Untertanengeist und Gehorsam im Umgang mit Kindern und Jugendlichen Alltag waren? Adolf Reichwein wird am 3. Oktober 1898 in Bad Ems geboren. Er wächst im hessischen Friedberg auf, schließt sich der Wandervogelbewegung an und meldet sich „jugendbewegt“ mit 16 Jahren als Kriegsfreiwilliger. An der Westfront wird er schwer verletzt.
Nach dem Krieg studiert Adolf Reichwein in Frankfurt am Main und Marburg Geschichte, Philosophie und Nationalökonomie. 1921 vollendet er seine Doktorarbeit über „China und Europa im 18. Jahrhundert“ und arbeitet dann als Geschäftsführer des deutschen Volkshochschulverbandes. 1929 wird er persönlicher Referent des preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker, ein Jahr später Professor an der pädagogischen Hochschule in Halle.
Beruflicher Neustart an einer kleinen Landschule in Tiefensee
Mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten verliert der Sozialdemokrat seine Stellung. Obwohl es Angebote gab, geht Adolf Reichwein nicht ins Exil. Stattdessen wählt er eine Anstellung an einer kleinen Landschule in Tiefensee, einem Dorf etwa 40 Kilometer nordöstlich von Berlin gelegen. Statt Hörsaal und Studenten hatte es Reichwein nun mit einer ganz anderen Lehrsituation zu tun: Kinder im Alter von fünf bis 14 Jahren sitzen jetzt vor ihm.
Reichwein lag daran, dass die Kinder in seinem Unterricht zur Selbständigkeit erzogen wurden – bemerkenswert in den 1930er Jahren. Schule bedeutete damals meist Frontalunterricht, der Lehrer oder die Lehrerin war eine Autorität, und wer diese anzweifelte, wurde mit Schlägen gemaßregelt.
Der Pädagoge Reichwein nutzte für seinen Unterricht den Film, um den Kindern einen Eindruck von der Welt zu vermitteln. Und jeder Film, den er seinen Schülerinnen und Schülern zeigte, wurde ausgewertet: In Form von Naturbeobachtungen, Unterrichtsgesprächen, Schulaufsätzen, Einträgen ins eigene „Filmheft“ oder durch spielerische, zeichnerische und handwerkliche Nachbetrachtungen.
Adolf Reichweins "Schule des Sehens"
Die Filme, die Reichwein vorführte, waren Stummfilme. Sie stammten vom Reichsinstitut für den Unterrichtsfilm, für das Tiefensee als Versuchsschule diente. Er hatte gute Beziehungen zu Kurt Zierold, dem für den Unterrichtsfilm zuständigen Ministerialrat im NS-Erziehungsministerium. Beide kannten sich noch aus der Zeit vor der Machtergreifung.
Adolf Reichwein fragte sich, welchen Mehrwert eine völlig neue Technik im Unterricht bringt. Er entwickelt in seinen pädagogischen Schriften umfangreiche Konzepte zu einer, wie er es nennt, „Schule des Sehens“. Immer steht im Zentrum der Schüler, der über das filmische Sehen die Welt begreifen und sich aneignen soll. Die Mediennutzung soll die Kinder zum eigenen Mitschaffen anregen und zum kritischen Nachdenken befähigen. Dazu gehörte auch der Umgang mit der "Hardware": Die Kinder beschäftigten sich im Unterricht auch mit dem technischen Aspekt des Films, also etwa der Kamera.
Bei den Filmen allein belässt es Reichwein nicht: Zum Thema "Bauernhof" und "Landwirtschaft" bringt er Zeichnungen und Fotografien mit, lässt die Schülerinnen und Schüler Bauernhäuser verschiedener Landschaften vergleichen. Er geht mit ihnen ins Heimatmuseum oder lässt sie Romane und Gedichte lesen, um tiefere Einsichten ins alltägliche Bauernleben oder über die Geschichte der Bauernkriege zu vermitteln.
Im Widerstand: Engagement im Kreisauer Kreis und Hinrichtung 1944
Sechs Jahre, bis 1939 wirkt er an der Landschule in Tiefensee, dann lässt er sich als Referent für „Schule und Museum“ an das Berliner Völkerkunde-Museum versetzen. Während des Krieges gehört er der Widerstandsgruppe des Kreisauer Kreises an. Im Juli 1944 wird er verhaftet und drei Monate später am Volksgerichtshof vom Vorsitzenden Richter Roland Freisler verhört und gedemütigt. Schließlich folgt ein Urteil, das schon vor Prozessbeginn festgestanden hatte. Am selben Abend, am 20. Oktober 1944, wird Adolf Reichwein in Berlin-Plötzensee hingerichtet.
Noch immer vorbildhaft: Entscheidungskompetenz der Kinder entwickeln
Auch wenn die heutige Welt sich von der Reichweins unterscheidet, so bleibt doch sein damaliges Ziel in der modernen Medienerziehung bestehen: Kindern und Jugendlichen einen großen Raum an Selbständigkeit und Entscheidungskompetenz zu geben, damit sie sich durch kreatives Spiel, technisches Knowhow und in sozialer Verantwortung von der Vormundschaft der Medien weitgehend befreien können. Nur so können sich selbstbewusste Persönlichkeiten entwickeln, die die manipulative Kraft der Medien etwa durch Propagandalügen erkennen und für eine pluralistische Gesellschaft einstehen.