Martha Argerich wird bei ihren Konzerten als lebende Legende gefeiert. Menschen pilgern ihr hinterher. Als Mensch hatte sie immer wieder tiefe Krisen, aus denen sie sich befreite, meist mit Musik. Ein ganz entscheidender Schlüsselmoment war für sie der legendäre Chopin-Wettbewerb 1965 in Warschau.
Der Moment, in dem Martha Argerich zur Legende wurde
Warschau, 1965: Hier wird Geschichte geschrieben. Das Publikum rastet aus, es scheint klar zu sein, wer hier der Sieger sein muss. Martha Argerich hat sich die Seele aus dem Leib gespielt und in der Finalrunde noch einmal alles gegeben. „A Star is born“ würden Journalisten heute schreiben.
Mit ihren langen, offenen Haaren steht sie da, verbeugt sich, wirkt befreit: Ein Lächeln, so strahlend, als hätte jemand plötzlich das Saallicht angemacht.
Schon vorher hatte sie eigentlich Türöffner gefunden, um das Tor für die große Karriere aufzuschließen. Das Major-Label Deutsche Grammophon bietet ihr einen Exklusivvertrag an, doch sie lehnt ab. Sie fühle sich künstlerisch noch nicht bereit etwas einzuspielen.
Welche junge Pianistin, welcher junge Pianist würde so etwas heutzutage sagen? Sie aber hat ihren Dickkopf und ihre hohen Ansprüche, die für Außenstehende oft nicht nachvollziehbar sind. Der Erfolg scheint ihr Recht zu geben.
Argerich am Tiefpunkt: Die Pianistin will nicht mehr
Nun also ist sie hier, in der Nationalphilharmonie in Warschau. Was die Öffentlichkeit nicht sehen kann, sind die Sorgen, die sie bis hierhin mit sich herum trägt. Sie wird ungeplant schwanger, bekommt ein Baby und es kommt zu einem heftigen Sorgerechtsstreit, den sie verliert. Sie ist von ihrem Kind getrennt und will nicht mehr.
Über mehrere Jahre hinweg lässt sie die Finger von der Tastatur. Immer wieder reden Freunde auf sie ein, versuchen sie zu einem Comeback zu überreden. Doch vergeblich. Der Stempel der Unzuverlässigen, die Konzerte absagt und im leistungsorientierten Klassik-Business nicht funktioniert, wird ihr aufgedrückt.
Martha Argerich spielt Chopin (1966)
Im Warschau geht sie als Favoritin ins Rennen
Das Publikum ist gespannt. Viele haben sie noch nicht selbst spielen gehört. Ein Geheimtipp ist sie nicht, sondern von Anfang an Top-Favoritin. Noch bevor sie überhaupt den ersten Ton spielt. Martha Argerich muss, wie alle anderen auch, drei Wochen lang vier Runden durchstehen, um es bis zum Ende zu schaffen. Ausschließlich Chopin darf gespielt werden.
Doch auch die Konkurrenz ist hart. Noch nie hat jemand aus Lateinamerika gewonnen, meistens sind es Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Osteuropa, die das Rennen unter sich ausmachen. Und so spielt dann auch jemand aus der legendären Pianistenschmiede des Moskauer Konservatoriums auf und wird zu Argerichs größtem Konkurrenten: Arthur Moreira Lima aus Brasilien.
Argerichs größter Konkurrent: Arthur Moreira Lima
Moreira Lima begeistert schon mit seinem Äußeren die stolzen Polinnen und Polen. Von der Seite sieht es tatsächlich so aus, als säße da eine Wiedergeburt von Chopin am Flügel: Schlank, zierlich, mit blasser Haut, die berühmt markante Nase mit dem kleinen Huckel. Und auch die dunklen Haare sind ähnlich.
In erster Linie bedroht Moreira Lima aber durch sein außergewöhnliches Klavierspiel Argerichs Triumph.
Vor dem Finale liegt Moreira Lima in Führung
Die erste Runde ist bewältigt. Arthur Moreira Lima ist auf Platz eins. Martha Argerich verpasst die Top drei, ist aber in der nächsten Runde und holt auf. In der zweiten Runde war sie auf dem ersten Platz, ihr brasilianischer Konkurrent auf dem zweiten.
Es wird immer mehr zum Zweikampf. An ein Ausscheiden denkt niemand mehr, nur noch daran, wer am Ende im Finale mit einem der beiden Chopin-Konzerte, die zur Auswahl stehen, triumphiert. Und tatsächlich: Keiner schafft es, den anderen abzuschütteln. Keiner gibt sich eine Blöße.
Arthur Moreira Lima liegt vor dem Finale in Führung. Jetzt geht es für Martha Argerich um alles.
Argerich an der Seite von Abbado: Chopins Klavierkonzert Nr. 1 (1968)
Poet und Vulkan treffen aufeinander
Sie wählt das wirkungsvolle e-Moll Konzert, was mit den polnischen Tanzelementen zu ihrem Temperament und zu ihrem intuitiven Musikmachen perfekt passt.
Er wählt das ruhigere f-Moll Konzert. Spielt geduckt, vornübergebeugt versunken in die Tastatur und arbeitet das Lyrisch-Sangliche heraus. Das, worauf es in dem Stück ankommt. Hier gibt es weniger Chancen zur Schau zu stellen, was man kann.
Nach dem Spektakel ziehen sich die Juroren zurück und beraten. Es dauert. Die Teilnehmer warten durchmischt mit dem Publikum vor dem Juryraum.
Unerträgliche Spannung vor der Verkündung der Preisträger
Der Zigarettennebel wird immer dichter, die Unterhaltungen werden weniger. Wann gehen denn endlich die Türen auf? Es dauert Stunden, dann ist es so weit.
Es ist mucksmäuschenstill … Dann verkündet ein Juror auf dem Flur: „Der erste Preis von 40.000 polnischen Zloty geht an: Martha Argerich, Argentinien.“
Martha Argerich hat es geschafft. Nach all den Jahren ohne Konzerte, ohne überhaupt zu üben und trotz der familiären Probleme und der persönlichen Krise: Wie Phönix aus der Asche steigt sie empor. Sie befreit sich selbst, schüttelt alle Sorgen ab.
Argerich wird zum Vorbild für die kommenden Generationen
Als Interpretin wird sie zum Inbegriff des Chopin e-Moll Konzerts, zum Vorbild für ganze Generationen an Pianistinnen und Pianisten. Zwar nimmt sie sich auch in späteren Jahren immer wieder Auszeiten, zieht sich zurück, mit sich und ihren Gedanken allein.
Doch immer dann, wenn sie die Bühne betritt, dann wird sie von unzähligen Menschen geliebt und rührt sie mit ihrer Kunst zu Tränen. Ein bisschen Nostalgie, ein bisschen Chopin-Wettbewerb 1965, schwingt da in ihrer Musik bis heute mit.
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