Album-Tipp

Aberwitzig virtuos: „My Melodies” von Helmut Lachenmann

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Susanne Benda
Susanne Benda - blondes kurzes Haar, weißes T-Shirt und eine Halskette mit Anhänger

Jetzt liegt auch das jüngste Werk des Altmeisters der „musique concrète instrumentale“ als Album vor: „My Melodies“ für acht Hörner und Orchester von Helmut Lachenmann. Die Uraufführung mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks leitete 2018 noch der jüngst verstorbene Peter Eötvös. Die zweite, überarbeitete Fassung wurde eingespielt unter der Leitung des Lachenmann-Schülers Matthias Hermann.

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Mikrotonal flimmernden Hornklänge

Da ist etwas. Nein, dort! Und schon ist alles wieder weg. Gezupfte Töne, Pizzikati von den Streichern, dann nimmt das Orchester Anlauf. Und wird ausgebremst.

Immer wieder fallen die acht Hornisten vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ihren Kolleginnen und Kollegen ins Wort, immer wieder prallt das Orchester mit voller Wucht gegen eine Klangwand aus meist mikrotonal flimmernden Hornklängen.

Komponist Helmut Lachenmann
Komponist Helmut Lachenmann, Altmeister der „musique concrète instrumentale“

Trotz Albumtitel: Melodien gibt es nicht

Das Stück hat eine hohe Dichte und Energie – man denkt nicht, dass ein mittlerweile 88-Jähriger es komponiert haben könnte. „My Melodies“ heißt Helmut Lachenmanns neuestes Werk, aber Melodien gibt es darin nicht – deren emotionaler Kern ist Lachenmann auch im Alter noch suspekt.

Der emotionale Kern von Melodien ist Lachenmann auch im Alter noch suspekt.

Wer sich einhört, entdeckt immerhin Beziehungen zwischen den Tönen, die man zu kurzen melodischen Fetzen zusammensetzen kann. Lachenmann hat Geräusche konzertsaalfähig gemacht, und womöglich denkt er da an eine Klangfarbenmelodie, wie sie vor ihm Arnold Schönberg vorschwebte.

„My Melodies“ ist eher vertikal gedacht

Vor allem ist „My Melodies“ aber ein Stück, das eher vertikal, also in Harmonien gedacht ist. Ganz unironisch gesehen, würde also der Titel „My Harmonies“ besser passen. Es geht in dieser Musik aber auch um Stille und um Atem. 

So atmen die acht Horn-Solisten an einer Stelle durch ihre Instrumente und danach fächert das Orchester einen Kosmos von Geräuschen auf, wie wir ihn von Helmut Lachenmann kennen. Dieser Kosmos wirkt hier überaus vielfarbig.

Aberwitzig virtuos

Es gibt auch eine Linie der Streichinstrumente, die zunächst als ein lang gehaltener Ton in Erscheinung tritt. Der Komponist bezeichnet sie als „Zeitlupen-Melodie“. Und es gibt eine Kadenz der acht Solohörner. Sie entfalten einen riesigen Resonanzraum. Dabei ist sogar eine deutliche chromatische Linie zu hören.

Dieser Teil von „My Melodies“ ist aberwitzig virtuos, die Hornisten entfalten auf grandiose Weise Klangfülle und dynamische Wucht, und überhaupt bringt das Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Matthias Hermanns Leitung die anspruchsvolle Partitur mit staunenswerter Selbstverständlichkeit zum Klingen.

Die Interpreten spielen die Musik so souverän wie ein altbekanntes Repertoirestück.

Wäre Helmut Lachenmann nicht schon ein Altmeister seiner Zunft: Diese Interpreten, die seine Musik so souverän spielen wie ein altbekanntes Repertoirestück, hätten den Komponisten endgültig zu einem gemacht. 

SWR Web Concerts Teodor Currentzis mit Patricia Kopatchinskaja & Helmut Lachenmann

Werke von Lachenmann, Dowland, Kourliandski, Biber und Scelsi. Patricia Kopatchinskaja (Violine), SWR Symphonieorchester, Dirigent: Teodor Currentzis. Livemitschnitt in der Stuttgarter Liederhalle vom 18.9.2020.

Musikthema Kälte in der Musik: „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Helmut Lachenmann

Wie klingt eigentlich Kälte? In Helmut Lachenmanns Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ verwandelt sich das Phänomen Kälte in Musik. Leonie Klein hat sich auf die Suche nach dem Klang der Kälte in Lachenmanns Oper gemacht.

SWR2 Treffpunkt Klassik SWR2