Buch-Tipp

Auf den Spuren der Schülerin Vivaldis: Harriet Constables Roman „Die Melodie der Lagune“

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Von Autor/in Georg Waßmuth

Die Geigerin Anna Maria della Pietà war die bedeutendste Interpretin der Musik Antonio Vivaldis zu dessen Lebzeiten. Eine Künstlerin ohne Familie oder Vermögen, die von der sozialen Schattenseite der Lagunenstadt Venedig abstammte. „Die Melodie der Lagune“ von Autorin Harriet Constable widmet sich ihrer Lebensgeschichte. Absolut lesenswert.

Venedig, 1695. Abenddämmerung, die Domglocke beschallt den Markusplatz. Eine junge Frau steht in einem schmalen, schwach beleuchteten Hauseingang und schaut auf. Für manche gibt die Glocke die Zeit an. Für andere markiert sie Feiertage, Ratsversammlungen, öffentliche Hinrichtungen. Für die junge Frau jedoch bedeutet das Läuten, dass sie und ihre Kolleginnen auf die Straße müssen. Ihre Arbeitszeit beginnt.

Harriet Constable macht kein Geheimnis daraus, aus welchen Verhältnissen ihre Protagonistin Anna Maria stammt. Ihre Mutter war eine Prostituierte, die ihr Kind aus der Not heraus in einem Waisenhaus abgeben musste. Davon gab es in Venedig nicht wenige, aber das Ospedale della Pietà hatte noch den besten Ruf.

Außenansicht der venezianischen Kirche Santa Maria della Pietà.
Antonio Vivaldi (hier in einem Gemälde, das den Komponisten darstellen soll) betreute ab 1703 als Violinmeister das Orchester des Mädchen-Waisenhauses Ospedale della Pietà.

Hier war Antonio Vivaldi der musikalische Leiter. Sein berühmtes Mädchenorchester erlangte beachtlichen Ruhm und lockte zahlreiche Italienreisende an. Doch für die kleine Anna Maria ist der Alltag erst einmal von ganz anderen Dingen bestimmt: „Waschen, schrubben, nähen, bügeln, Gemüse putzen, Wasser kochen, scheuern, sauber machen. Erst nach dem Mittagsgebet haben die Mädchen frei“, schreibt Constable.

 Die Autorin zeichnet ein facettenreiches Bild vom Leben im Waisenhaus. Das war extrem kontrastreich. Körperliche Züchtigungen gehörten zur Tagesordnung und die Order „Bete und arbeite“ gab den Takt vor. Auf der anderen Seite erhielten die Mädchen sehr früh Zugang zu einer fundierten, musikalischen Ausbildung. 

Der steinige Weg zur Geigen-Virtuosin

Stiefel schaben über den Holzfußboden, als alle zum Instrumentenschrank eilen. Etwa zwanzig Geigenkästen liegen in den Regalen, verschrammt und beschädigt, gespendet von wohlhabenden Venezianern, die einmal auf den darin befindlichen Geigen gespielt haben und sie dann nicht mehr brauchten.

Dass der Unterricht damals nicht von Walddorf-Pädagogik geprägt war, sondern mit harter Hand durchgeführt wurde, führt die Autorin bildhaft aus. Die Mädchen wurden für das Orchester mehr oder weniger streng abgerichtet, denn es war eine sprudelnde Einnahmequelle für die Einrichtung.  

Die Autorin begleitet ihre Protagonistin auf dem langen und steinigen Weg zur angesehenen Geigen-Virtuosin. Nach und nach wird sie zu einer herausragenden Vivaldi-Interpretin, viele seiner Stücke sind ihr gewidmet.

Das Verhältnis der beiden zueinander wird dabei sehr differenziert erzählt und ausgeschmückt. „Die Melodie der Lagune“ ist ein Roman und eben kein staubtrockenes Handbuch der Musikwissenschaft. Trotzdem gelingen der Autorin mit leichter Hand sehr gute Werkbeschreibungen. 

 

Außenansicht der venezianischen Kirche Santa Maria della Pietà.
Das Ospedale della Pietà, in dem Anna Maria unterrichtet wurde, befand sich in unmittelbarer Nähe der Kirche Santa Maria della Pietà unweit des Dogenpalastes.

 Absolut lesenswerte Lebensgeschichte

Die historische Anna Maria della Pietà starb 1782 hochbetagt im Alter von 86 Jahren. Das Waisenhaus hat sie nie verlassen, ihre Versuche, ein bürgerliches Leben außerhalb zu führen, scheiterten an den Umständen der Zeit.

Auch ihr Œuvre als Komponistin blieb lange in tiefen Schubladen versteckt. Der Rahmen der Selbstbestimmung war für Frauen in dieser Epoche extrem eingeschränkt.  Harriet Constable erzählt auf 380 Seiten eine spannende und absolut lesenswerte Lebensgeschichte.

„Ich habe diesen Roman geschrieben, weil einige der berühmtesten Musikstücke der Welt einen anderen Ursprung haben, als wir bislang dachten“, schreibt Constable in ihrem Buch. „Sie stammen von Hunderten Mädchen und Frauen. Ich hoffe, Sie fragen sich jetzt, was es noch alles zu entdecken gibt.“

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Georg Waßmuth