Buchkritik

Zidrou und Arno Monin – Die Adoption: Wajdi

Stand
Autor/in
Silke Merten

Ein traumatisierter Junge aus dem Jemen findet bei einer französischen Familie ein neues Zuhause. Wie schwierig es für alle ist, sich aufeinander einzulassen, zeigt das Duo Zidrou und Monin im Band 'Wajdi' seiner Comic-Reihe „Die Adoption“.

Bunt und schwungvoll gezeichnet nimmt „Die Adoption“ die Lesenden in Empfang. Zusammen mit den beiden Hauptfiguren Wajdi und seiner neuen Mutter Gaëlle betreten wir ein Haus mit großem Garten. Am Eingang der Junge aus dem Jemen, klein, dünn, immer Angst und Misstrauen im Blick. Drinnen die Mittelschichts-Familie, gut gekleidet, selbstsicher, geborgen in ihrem Idyll. Bilder und Dialoge verströmen die für franco-belgische Unterhaltungs-Comics typische Munterkeit.  

Auch im zweiten Band ihrer Reihe über Auslandsadoptionen lassen der Autor Zidrou und der Zeichner Arno Monin Welten aufeinanderprallen. Diesmal sind die Farben blasser, die Linien etwas schärfer gezogen als im ersten Teil. Denn ihre Hauptfigur, der zehnjährige Wajdi, ist tief traumatisiert. Er hat seine Familie verloren und Tausende Kilometer Flucht hinter sich. Seine neuen Eltern Gaëlle und Romain wollen ihm Gutes tun. Und freuen sich über ein drittes Kind. Doch Wajdi bleibt auf Distanz. Was seine neue Mutter nur schwer erträgt. 

Yusra: Und sonst ... Läuft alles gut? Hat sich Ihr Sohn schon ein bisschen eingewöhnt? 
Gaëlle: Mein S... Ach ja, Wajdi! (zögerlich:) Wie Sie sehen, hat er eine recht ausgeprägt Neigung, sein Revier zu markieren! Er ist mitunter etwas wild. Aber mit der Zeit wird sich das geben. Ich vermute, dass das Leben in den Flüchtlingslagern, wo er die letzten zwei Jahre verbracht hat, nicht immer leicht war. 

Ein traumatisiertes Kind in einer Mittelschichts-Idylle 

Wie einsam Wajdi sich fühlt, zeigen Autor und Zeichner in Szenen, die in der Nacht spielen, getaucht in kühles Blau. Wajdi ist schlaflos, er streift durchs Haus, während seine tote Mutter und seine Schwester als Geister durchs Fenster zu ihm hereinblicken. Oder er wälzt sich im Bett, eine winzige Gestalt im Panorama seines großen Zimmers.

Solche Bilder, die ohne Worte viel erzählen, wechseln sich ab mit Episoden aus Wajdis Alltag. Er wird neu eingekleidet, lernt das Umfeld der Familie kennen. Doch immer wieder zeigt die Normalität Brüche. Wajdi reagiert auf Verhalten, das für seine französische Umgebung zum Alltag gehört, mit Gewalt. Bis hin zur Eskalation, als er rassistisch beleidigt wird. 

Es waren zwei Erwachsene nötig, um ihn daran zu hindern, dass er weiter auf diesen armen Jungen einschlägt. Das war keine Prügelei, (...), das war Krieg. (...) Wir haben diesen Jungen aufgenommen, wir schenken ihm ein Zuhause, wir schenken ihm all unsere Liebe ... und wie bedankt er sich dafür... ‚Er hat sein halbes Leben in der Hölle verbracht?‘ Tja, also seine Hölle hat er jetzt mit zu uns gebracht. 

Hier klingt der zentrale Konflikt an. Gaëlle sieht sich in ihren Erwartungen ans harmonische Familienleben enttäuscht. Da erstaunt es nicht, dass sie ein paar Seiten später die Adoption rückgängig machen will. Zidrou und Monin entlarven ihre Zuwendung als Bedürfnis, sich selbst aufzuwerten. Die Geschichte nimmt noch einmal Fahrt auf, als Wajdi aus seinem neuen Zuhause flieht.  

Die Adoption als Versuch, sich selbst aufzuwerten 

Spätestens hier entgleitet Autor und Zeichner ihre Geschichte. Sie erzählen von Fremdheit und den Erwartungen wohlhabender Europäer, von Alltags-Rassismus und gleich von mehreren Generationenkonflikten - immer im Bemühen, auch Momente von Komik und Rührung einzuflechten. Dabei bleiben die Bilder glatt und realistisch, nirgends findet sich eine optische Überraschung. Allein, dass Wajdi immer wieder seine tote Familie wie Figuren auf Porträt-Fotografien sieht, erinnert daran, was ein Comic mit nur einem Bild auszudrücken vermag.

Aber die Frage, ob oder wie es dem Jungen vielleicht gelingt, trotz seiner Wut und Trauer in die neue Familie hineinzufinden, gerät Autor und Zeichner aus dem Blick. Am Ende geht es vor allem um Gaëlle und ihre Suche nach Wajdi, um ihr Verständnis von Mutterschaft. So flüssig sich „Die Adoption“ liest und so sehr man sich für Wajdi ein Happy End wünscht - es ist etwas zu glücklich und kommt nach all den Konflikten zu schnell. Die vielen kleinen Herzen, die sich über das letzte Bild ziehen, decken zu, was noch lange nicht gelöst ist.  

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