Streit um Geschmack: In „Wut und Wertung“ entlarvt Johannes Franzen die Leidenschaft hinter unseren Kunststreitigkeiten. Warum sind diese Konflikte so persönlich?
Eigentlich ist es eine Binsenweisheit: Über Geschmack lässt sich nicht streiten, das wussten schon die Römer. Warum tun wir es dann aber trotzdem, oft sogar mit größter Leidenschaft? Klar, wir tun es nicht, wenn es um unsere Lieblingsmarmelade geht. Aber bei der Frage nach unserem Lieblingsautor, unserer Lieblingsmusik oder -serie? Da sieht die Sache schon anders aus.
Für den Literaturkritiker Johannes Franzen ist das kein Zufall. Denn Urteile in Sachen Ästhetik besitzen ein spezielles Konfliktpotenzial: Bei ihnen geht es um viel mehr als nur um Kunst, es geht immer auch um uns selbst. Schließlich ist das, was wir am liebsten lesen, hören oder anschauen – das, wofür wir Zeit, Geld und Emotionen investiert haben –, Teil unserer Identität. Entsprechend groß sei das Verletzungspotenzial einschlägiger Äußerungen, so Franzen.
„Trotzrezeption“
Unter dem schönen Titel „Wut und Wertung“ untersucht Johannes Franzen die starken Emotionen, die wir im Umgang mit Kunst entwickeln. Sein spannendes Buch ist voller überraschender Beobachtungen wie die: Es wurde noch nie so viel über Kunst gestritten wie in unserer Zeit.
Jedenfalls wenn man, wie Franzen, von einem sehr weiten Kunstbegriff ausgeht, der keinen Unterschied macht zwischen dem, was uns in Museen, im Fernsehen oder im Internet begegnet. Dann sieht man nämlich: Die Reaktionen von Rezipienten, die sich verletzt oder angegriffen fühlen, sind oft erstaunlich ähnlich.
Egal ob es um ein Eugen Gomringer-Gedicht an der Fassade einer Berliner Hochschule geht, um Karl Mays Winnetou-Romane oder den umstrittenen Partyschlager „Leyla“. So kommt es regelmäßig zum Phänomen einer „Trotzrezeption“; schließlich will man sich seine Kunst von niemandem wegnehmen lassen.
Oder es kommt sogar zu einer „agonalen Rezeption“, bei der man versucht, der Gegenseite seine Kunst quasi aufzuzwingen. Gomringers Gedicht zum Beispiel wurde zwar von besagter Hochschulwand entfernt, von empörten Gomringer-Liebhabern aber nur ein paar Häuser weiter an einer anderen Fassade angebracht.
Neue Macht des Publikums
Warum derartige Konflikte heute immer häufiger auftreten, kann Franzen gut erklären. Es liegt vor allem an der Digitalisierung, die dafür sorgt, dass wir ständig mit den Meinungen und Urteilen anderer oder auch Details aus dem realen Leben von Künstlern konfrontiert werden.
Und dass zugleich die Meinung des Publikums eine viel höhere Sichtbarkeit und auch Macht gewonnen hat, gerade im Verhältnis zur professionellen Kritik. Franzen erinnert an den Fall eines Musikrezensenten, der es wagte, die Musik von Taylor Swift einmal nicht in den höchsten Tönen zu loben und prompt einen Shitstorm ihrer Fans erntete, bis hin zu Morddrohungen.
Toxisches Beziehungsgeflecht
Für Kritiker wie Künstler scheinen derartige Erfahrungen kollektiver Ablehnung inzwischen leider zum normalen Berufsrisiko geworden zu sein. Das größere Problem, so Franzen, seien aber jene Künstler, die den Fans die Freude an den geliebten Werken verderben, und zwar durch das, was sie in ihrem realen Leben angeblich oder auch tatsächlich getan oder geäußert haben. Das betrifft die Musik von Michael Jackson oder Rammstein genauso wie die Filme von Woody Allen oder die Romane J. K. Rowlings.
Unterstützt man den Künstler nicht, wenn man weiterhin seine Werke rezipiert? Wie rechtfertigt man sich gegenüber denen, die von einem erwarten, dass man sich von dem betreffenden Künstler von nun an distanziert? Ob so oder so, eines sei in jedem Fall klar, betont Franzen: Wir streiten nur über das, was uns wirklich wichtig ist. Und das ist uns die Kunst heute offenkundig mehr denn je. Wie schön.
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