Reportage

Pirkko Saisio – Das rote Buch der Abschiede

Stand
Autor/in
Katharina Borchardt

Sie ist lesbisch. Sie ist gläubig. Sie bekommt ein Kind. Im Helsinki der 1970er Jahre wird Theaterstudentin Pirkko Saisio erwachsen. In „Das rote Buch der Abschiede“ erzählt sie von dieser aufregenden Zeit. Es ist Teil 3 ihrer nach und nach erscheinenden Helsinki-Trilogie. Das Porträt einer jungen Frau, aber auch ein Trip durch die finnische Hauptstadt.

Die Kirche im ehemaligen Arbeiterviertel Kallio in Helsinki. Hier wird gerade geprobt. Nur wenige Straßen weiter wuchs die Autorin Pirkko Saisio in den 50er und 60er Jahren auf. In einem Mietshaus für Arbeiterfamilien. Schon als Kind liebte sie diese Kirche.

„Ich habe in dieser Kirche schon so viel gesessen und mich umgeschaut. Ich kenne hier jedes Detail. Mit 2 Jahren wurde ich hier getauft. Und ich weiß noch, wie ich als Fünfjährige mit dem Kindergarten herkam.“ (Pirkko Saisio)

Kirche und Kommunismus – Konstanten in Pirkko Saisios Leben

Heute ist sie 74, und sie trägt ein Armband mit einem kleinen silbernen Kreuz. Kirche und Kommunismus – beides spielt in ihrem autobiographischen Roman „Das rote Buch der Abschiede“ eine große Rolle. Denn ihre Eltern hatten es nicht so sehr mit der Bibel. Dafür besaßen sie die gesammelten Werke von Lenin und auch von Stalin.

„Meine Mutter kam so mit 14 oder 15 nach Helsinki. Sie war ein Waisenkind aus Ostfinnland. Meinen Vater lernte sie während des Kriegs kennen. Er hat sein ganzes Leben für die finnisch-sowjetische Freundschaftsorganisation gearbeitet. In den 50er und 60er Jahren wurde sie von strengen Kommunisten geleitet.“ (Pirkko Saisio)

Immer wieder reiste der Vater nach Moskau. Von Helsinki bis zur russischen Grenze sind es keine 200 km. Aufgrund des Ukraine-Kriegs ist die Grenze aktuell allerdings dicht. Man sieht kaum noch Autos mit russischen Kennzeichen auf finnischen Straßen.

In den 1970er Jahren war das anders. In diesen Jahren studiert Pirkko Saisio Theater. Wie ihre Kommilitonen ist sie revolutionär gestimmt und bringt Agitprop auf die Bühne. Sie fängt an zu schreiben.

„Und das ist sie im Jahr neunzehnhundertsiebzig:
Sie ist zu ihrer vollen Länge ausgewachsen und eins achtundsechzig.
Sie wiegt etwa siebzig Kilo und würde das niemals verraten.
Sie ist stämmig, breitschultrig und markant.
Sie bemalt ihre (nicht vorhandenen) Augenbrauen mit einem dunklen Schminkstift.

Wenn sie allein ist, singt sie viel. Und sie schreibt auf ihrer Remington Kurzgeschichtenanfänge. Auf diese zarten Geschichtenkeimlinge malt sie Gesichter, Männergesichter und ihr eigenes, nie andere. Sie liest Romane, schreibt dazu Uniklausuren, gähnt und wartet.

Es ist die Zeit vor Havva.“
(Zitat aus „Das rote Buch der Abschiede“)

Der Abschied von Havva, Pirkkos großer Liebe

Havva – Pirkkos große Liebe, die sie verlässt, als Pirkko ein Kind bekommt. Einer der großen Abschiede im Buch. Aber es gibt da noch andere Mädchen und Jungen. Sie treffen sich in einer Kellerbar und verbringen dort sinnliche, fröhliche und vor allem geheime Abende. Homosexualität stand damals noch unter Strafe. Auch Pirkkos Eltern reagieren entsetzt, vor allem die Mutter.

„Fass mich nicht an! Nie wieder. Mit diesen Händen fasst du auch das Mädchen an!
Sie reden.
Reden, fragen, Antworten gibt es keine.

Mutter:
Wieso ausgerechnet wir? Ich?
Beschwichtigungen.

Tochter:
Wir sind nicht die Einzigen im Land. Wir sind um die fünf Prozent, weltweit, sogar in der Sowjetunion, auch wenn sie es da totschweigen.

Und Mutter:
Hör mir auf mit Prozenten und der Sowjetunion! Raus mit dir, sofort!“
(Zitat aus „Das rote Buch der Abschiede“)

Pirkko Saisio erzählt sehr szenisch: viele Dialoge, viele Absätze, auch viele Gänge durch die Stadt, genaue Benennung von Örtlichkeiten, präzise Adressen. Manchmal ein bisschen zu detailliert. Manchmal fehlt auch was, zum Beispiel wie Pirkko eigentlich schwanger wurde. Das Porträt einer jungen Frau – aber auch das Porträt einer Stadt.

„Darüber habe ich nie nachgedacht. Aber: Warum nicht? Ich lebe hier seit über 70 Jahren. War zwischendurch nur mal anderthalb Jahre in Lappland. Meine Familie väterlicherseits kam vor etwa 120 Jahren vom Land und zog in den Stadtteil Kallio. Meine Enkel leben hier also in 5. Generation.“ (Pirkko Saisio)

Band 3 der Helsinki-Trilogie erscheint als erstes

Pirkko Saisio erzählt auf verschiedenen Zeitebenen, ausgehend von der Gegenwart des Jahres 2002. „Das rote Buch der Abschiede“ folgt der Logik des Erinnerns, springt also auch ein wenig hin und her. Träume spielen ebenfalls eine Rolle.

Mal ist Pirkko ein Ich, mal wird von ihr als „sie“ erzählt. Nähe und Distanz zwischen der Autorin und ihrer Hauptfigur, immer wieder neu austariert. Das ist manchmal ein bisschen verwickelt. Zugleich entsteht dadurch eine Emotionalität, die ganz und gar lebendig ist.

Pirkko Saisio erzählt ihr Leben in drei Bänden. „Das rote Buch der Abschiede“ ist Band 3, erscheint auf Deutsch aber als erstes. Band 1 und 2 erzählen stärker von der Kindheit im Arbeiterviertel Kallio. Nicht weit davon entfernt hat übrigens auch der Siltala-Verlag seine Büroräume, Pirkko Saisios Verlag.

An der Wand ein gerahmtes Foto von ihr in Königinnenpose. Als Autorin, Theater- und auch Filmemacherin ist sie im ganzen Land bekannt. Sie geht die Sachen pragmatisch an, erzählt Verleger Touko Siltala:

„Sie war immer schon Dramatikerin. Sie hat geschauspielert, hat Regie geführt, hat gesungen. Sie ist keine Autorin, die jahrelang auf einem Thema rumkaut. Wenn sie eine Idee hat, setzt sie sich hin und macht daraus ein Buch. Sehr pragmatisch, zielorientiert. Das kommt wahrscheinlich vom Theater. Sie weiß, was Deadline heißt. Ihre Skripte sind ihr nicht heilig, es sind einfach Skripte.“ (Touko Siltala)

Genauso hemdsärmelig verfährt Pirkko mit frühen Theatertexten, die im Roman geschrieben und umgehend vom Studententheater inszeniert werden. Agitprop mit vielen Anleihen bei Brecht und Stanislawski. Die Studenten sind in Aufruhr. So ganz anders als die Bürger um sie herum.

„Es ist wie ein Wunder, auf dem Senatsplatz stehen zu bleiben und die mit Einkaufstüten von Elanto und Valintatalo beladenen Leute zu sehen, die von der Revolution nichts wissen und blind in ihren sinnfreien Abend eilen.“ (Zitat aus „Das rote Buch der Abschiede“)

Frau mit Bärenfell und Löwe als Vorbild

Denkt Pirkko damals. Heute steht sie wieder auf dem Senatsplatz. Direkt vor der Statue von Zar Alexander II. Er war Russe, ja, aber auch ein Finnland-Freund. Seinen Sockel rahmen vier Frauenstauen. Sie repräsentieren Gesetz, Arbeit, Frieden und Licht.

„Eine Freundin und ich – wir waren damals vielleicht so 12, 13 oder 14 Jahre alt – kamen gern hier auf den Senatsplatz und haben uns die Statuen angeschaut. Wer der Typ da auf dem Sockel war, wussten wir nicht. Den fanden wir uninteressant. Wir interessierten uns nur für die Statuen. Ich mochte vor allem die Gesetzes-Figur. Heute lache darüber, weil sie so offensichtlich die maskulinste von allen ist. Sie trägt ein Schwert und ein Bärenfell und hat einen Löwen dabei. Ich habe sie mir damals angeschaut und wollte so sein wie sie. Sie war mein Vorbild. Andere Vorbilder hatten wir damals noch nicht.“ (Pirkko Saisio)

Das war Anfang der 60er Jahre. Was hat sich seither alles verändert! Mit Pirkko Saisio können wir miterleben, wie es war, in jenen Jahren erwachsen zu werden. Als lesbische Frau. „Das rote Buch der Abschiede“ ist soeben erschienen. Die anderen beiden Bände der Helsinki-Trilogie folgen bald nach.

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