Reportage

Pei-yun Yu / Jian-xin Zhou – Tsai Kun-lin. Graphic Novel aus Taiwan

Stand
Autor/in
Kathrin Erdmann

Kolonie, Diktatur, Demokratie: Taiwans wechselvolle Geschichte ist für Außenstehende oft schwer zu verstehen. Eine Graphic Novel erzählt die Lebensgeschichte des Taiwaners Tsai Kun-lin, Jahrgang1930, der all das miterlebt hat. Zwei Bände der Graphic Novel gibt es jetzt auf Deutsch. ARD-Korrespondentin Kathrin Erdmann war auf der Gefängnisinsel, auf der Tsai Kun-lin zehn Jahre eingesperrt war und hat mit Autorin und Zeichner der bewegenden Bücher gesprochen.

Das Schiff wackelt nach links und rechts, die Spucktüten werden rege in Anspruch genommen. Die 50-minütige Überfahrt nach Green Island, die frühere taiwanische Gefängnisinsel, ist ruckelig.

Wie es erst für Tsai Kun-lin gewesen sein muss, der als junger Mann in den 50er Jahren im Holzboot auf die 16 Quadratkilometer große Insel deportiert und dort als politischer Häftling inhaftiert wurde.

Es war die Zeit des so genannten Weißen Terrors, die von 1949-1987 dauerte. Nach seiner Niederlage gegen die Kommunisten in Festlandchina war der Militärführer Chiang Kai-shek mit seinen Truppen nach Taiwan geflüchtet und errichtete dort ein Regime des Schreckens. Tausende unschuldige Menschen wurden verhaftet.

Der junge Tsai Kun-lin wird verhaftet, weil er gerne liest

Auch Tsai Kun-lin. Sein Vergehen: Er hatte sich als Jugendlicher einem Lesezirkel angeschlossen.

„Ich habe Tsai Kun-lin zum ersten Mal 2012 getroffen. Er war ein unheimlich sanfter, netter Mann. Man hat ihm nicht angesehen, was er durchgemacht hat.“ (Lin Yen-Ting)

Sagt Lin Yen-Ting. Sie führt durch das frühere Gefängnis, das heute ein Museum ist. Vieles wurde nachgebaut, zum Beispiel die Schlafbarracken. Einfache Holzpritschen. Weil für je drei Männer nur 135 Zentimeter Platz vorgesehen waren, schliefen die Häftlinge Kopf an Fuß.

„Als Tsai Kun-lin hier ankam, erzählte ihm ein anderer Häftling, dass sich sein Schlafnachbar beklagt hatte, weil er ihm in der Nacht immer die Füße ins Gesicht stieß. Deshalb hat Kun-lin von Anfang an seine Füße an einem Bettpfosten festgebunden.“ (Lin Yen-Ting)

Das Gefängnis auf Green Island war damals das größte Umerziehungslager Taiwans. Bis zum Ende des „Weißen Terrors“ waren hier bisweilen bis zu 2000 Menschen untergebracht.

Widerspenstige Häftlinge müssen in einen Bunker

 Ein steiniger Weg führt hinunter zum Meer. Die Wellen schlagen hoch. Dort steht noch ein etwa drei Meter hoher Minibunker mit Schießscharten. Hier wurden stundenweise widerspenstige Häftlinge hingebracht:

„Da brennt direkt die Sonne drauf, dann konnten sie nicht auf die Toilette, sie haben nichts zu Essen bekommen. Es ist ein bisschen so wie Einzelhaft gewesen, um sie zu brechen.“ (Lin Yen-Ting)

Als Tsai Kun-lin auf Green Island ankam, erzählt Lin Yen-Ting, hatte er völlig andere Erwartungen, dachte, er würde mit anderen in einem großen Haus leben und nicht einem Gefangenenlager. 10 Jahre blieb er auf Green Island.

Die Graphic Novel erzählt diese Zeit in all ihren Facetten. Der Band ist düster gezeichnet mit vielen schwarzen Schatten, während eines Verhörs prasseln die Fragen nur so auf den jungen Mann ein. Die knapp 200 Seiten sind regelrecht erdrückend.

Jeder Band der Graphic Novel hat eine andere Grundfarbe

„Diesen Band habe ich holzschnittartig gezeichnet. Damit kann man gut ausdrücken, wie es den Insassen innerlich ging. Es war eine ganz schwierige Zeit für alle.“ (Zhou Jian-xin)

Und doch gibt es in der Dunkelheit auch Hoffnung, die aufblitzt, entstehen Freundschaften, Zusammenhalt, die hellen Momente, die Illustrator Zhou Jian-xin durch grau-blaue Passagen zum Ausdruck bringt.  

Das Besondere: Jeder der insgesamt vier Bände hat eine andere Grundfarbe.

„Die Farben und die jeweilige geschichtliche Ära sollten sich unterscheiden. Im ersten Band geht es um seine Kindheit, er verklärt diese Zeit so ein bisschen, er war unbescholten, naiv, und deshalb ist alles in rosa gezeichnet.“ (Zhou Jian-xin)

Und auch vom Stil her völlig anders. So besteht der erste Band nur aus Bleistiftzeichnungen. Taiwan stand damals unter japanischer Kolonialherrschaft. Das bedeutete, den eigenen Namen und die eigene Sprache aufgeben zu müssen, Tsai Kun-lins Lehrer hat der Illustrator ein kleines Hitlerbärchen gezeichnet.

Im Text blitzen je nach Zeit auch die unterschiedlichen Sprachen auf: Japanisch, Chinesisch, Taiwanisch. So verstehen die Leser*innen, was den Bewohnern der Pazifikinsel über die Jahrzehnte abverlangt wurde.

Die Autoren haben den Menschenrechtler Tsai Kun-lin oft getroffen

Die Idee zur Graphic Novel hatte die Kinder- und Jugendbuchautorin Yu Pei-yun, nachdem sie Tsai Kun-lin 2016 auf einer Veranstaltung kennengelernt hatte. Immer wieder tauschten sich Autorin und Illustrator beim Schreiben und Zeichnen mit dem späteren Menschenrechtler aus.

„Er war ein bescheidener Mensch und sagte oft: Ihr stellt mich da so heldenhaft dar, so bin ich doch gar nicht. Aber er hat sich dennoch sehr gefreut, weil sein Enkel danach zu ihm gesagt hat, er verstehe jetzt viel besser die taiwanische Geschichte.“ (Yu Pei-yun)

Und genau das will die Graphic Novel. Auf eine ansprechende Weise die aufklären, die diese Geschichte nicht kennen.

Ein Stück politische Bildung vom anderen Ende der Welt

Im Ausland, so Illustrator Zhou, sei das Interesse riesig, in Taiwan hingegen noch eher zurückhaltend.

„Das liegt wahrscheinlich daran, dass Taiwan so lange unter Kriegsrecht stand, wo man politische Themen aus Sicherheitsgründen vermeiden musste. Und sich mit dieser Zeit des Weißen Terrors auseinanderzusetzen, da gibt es immer noch eine Art innere Ablehnung.“ (Zhou Jian-xin)

Und nicht nur das, fügt Autorin Yu hinzu:

„In Taiwan hat man zudem das Problem: Junge Leute lesen zwar viele Comics, aber das sind alles japanische Mangas. Wenn man das jetzt miteinander vergleicht, ist das hier natürlich schon was anderes. Und wenn die taiwanischen Jugendlichen hören, dass es da um eine Zeit der politischen Unterdrückung geht, passt das nicht zusammen, denn Mangas liest man ja zum Spaß.“ (Yu Pei-yun)

Beide wünschen sich, dass nicht nur taiwanische Leser*innen durch die vier Bände mehr über die wechselvolle Geschichte ihres Landes erfahren.

Ein Stück politische Bildung vom anderen Ende der Welt. Beeindruckend gezeichnet, einfühlsam erzählt.

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