„Chora“ lautet der eigenwillige Titel des neuen Gedichtbands von Michael Lentz. Er enthält siebzehn lyrische Texte von unterschiedlicher Länge und Bauart. „Chora“ bedeutet bei Platon eine Art „Urmaterie“, auch „Amme des Werdens“ genannt. Und ist nicht die Poesie die Amme alles sprachlichen Werdens und das Zentrum der Sprachkunst?
„dies ist chora die nacht der mensch hängt einem entgegen“.
Mit dieser Verszeile beginnt das Buch. Der Mensch – der Dichter – stellt sich der dunklen „Urmaterie“ und formt sie zu poetischer Sprache. Michael Lentz nutzt dafür verschiedene Stilmittel. Da gibt es einmal die „Repetitio“, die Wortwiederholung. In einem Gedicht geht es um den toten Bruder des lyrischen Ich. Indem es den Tod des Bruders mehrfach wiederholt, kommt es zu einer Annäherung, ja, fast zu einer Identifikation der beiden:
„ich bin der bruder des bruders ich bin der bruder / des bruders der tot ist ich bin der bruder des toten“. – Ein lyrisches Memento mori.
Ein äußerst wichtiges Stilmittel im Band ist zudem die Permutation. Das meint die Umstellung von Worten und Wortfolgen innerhalb eines Gedichts.
– „es wandelt das wort nun lose umher / als grauser name wandelt nun lose / das wort umher das lose wort / das wortlose wandelt im wort umher“.
Im Lesen und laut Sprechen des Gedichts merkt man, dass der Wandel bestimmter Worte neuartige Zusammenhänge hervorbringt – bis es eben heißt: „das wortlose wandelt im wort“.
Damit man aber nicht in Sprachlosigkeit verfällt, wendet sich Michael Lentz der Sprachkraft von Neologismen zu, von Wortneuschöpfungen, auch solchen aus Worten vergangener Zeit. Im Gedicht „holunder“ ist zu lesen: „drängnis der fräule“. Die „drängnis“ ist im Frühneuhochdeutschen die „Not“. „Fräule“ – den Begriff verwendete noch Goethe für „Fräulein“. Ein junges Mädchen ist also in Not und Bedrängnis – vielleicht in Sprachnot.
Dann heißt es:
„aus den furchen quillt mir schwellenhocker / ähnlsommer verlassene schuckel“.
Als „Schwellenhocker“ wird heute noch ein massiver Couchtisch bezeichnet. Und so mancher Bayer nennt den „Altweibersommer“ den „Ähnlsommer“. Und so „schuckeln“ und schaukeln die Leser von Lentzens Gedicht zwischen alten Wortbedeutungen und echten Neologismen wie „endlichtnis“ hin und her. Wahrlich, die Poesie ist „Chora“, die Amme alles sprachlichen Werdens!
Im Band „Chora“ macht Michael Lentz etwas, was man von ihm nicht so kennt. Im Gedicht „doppelter schillerparabol“ schreibt er das Gedicht „Der spielende Knabe“ von Friedrich Schiller um, schreibt es neu auf die Jetztzeit bezogen. Bei Schiller geht es um die Geborgenheit des Kindes: „Spiele, Kind, in der Mutter Schooß! Auf der heiligen Insel / Findet der trübe Gram, findet die Sorge dich nicht“. Daraus macht Lentz:
„du hast es längst / durchschaut die heilige insel ist der schrecken anfang“.
Die Bedrängnis, das Grauen ist auch bei Schiller anwesend – allerdings im Hintergrund: „Liebend halten die Arme der Mutter dich über dem Abgrund“. Bei Lentz ist das alles ins Dunkle gewendet:
„es hält die liebe über den abgrund nur sich selbst“.
Jegliche Geborgenheit ist bei Lentz verflogen. Es gilt:
„wohin du siehst auf erden nur kloake“.
Ein Begriff taucht im Gedichtband „Chora“ mehrfach auf: „ge-stell“. Das „Ge-stell“ – mit Bindestrich geschrieben – ist ein Terminus des Philosophen Martin Heidegger. Dieser besagt, dass in der technischen Welt die Natur, zum Nutzen des Menschen gestellt ist. Die Welt als das Berechenbare, das zum Verbrauch Bestimmte.
Die Poesie hingegen verbraucht und berechnet nichts. Sie ist ein Sprach-Wurf – und ist dabei schöpferisch. Die Poesie ist „Chora“ – Amme alles sprachlichen Werdens. Auch wenn im neuen Gedichtband von Michael Lentz die Welt zuzeiten einer „kloake“ gleicht, so bleibt sein Glaube an die poetische-schöpferisch Kraft der Sprache ungebrochen. Genau in diesem Sinne ist die Lektüre von „Chora“ zu empfehlen: Sprach-Schöpfung ist die poetische Auflehnung gegen den Istzustand der Welt.