SWR2 lesenswert Kritik

Silvia Ferrara – Der Sprung. Eine Reise zu den Anfängen des Denkens in der Steinzeit

Stand
Autor/in
Andrea Gnam

Die italienische Archäologin und Professorin für klassische und ägäische Philologie Silvia Ferrara versucht uns die Faszination für Felsbilder der Steinzeit näherzubringen. Schon unsere Vorfahren, so meint sie, waren sehr geschickt darin, ihre Sinnesreize zu zeichnen und in Bildern zu verarbeiten.

Aus dem Italienischen von Enrico Heinemann
C. H. Beck Verlag, 224 Seiten, 32 Abb., 26 Euro
ISBN 978-3-406-79782-8

Die 1976 geborene Silvia Ferrara ist Archäologin und Professorin für klassische und ägäische Kulturen an der Universität Bologna. Ihr Hauptinteresse gilt der Entstehung der Schrift, wovon ihr letztes Buch "Die große Erfindung" gehandelt hat. Jetzt widmet sie sich den frühesten Zeugnissen: "Der Sprung. Eine Reise zu den Anfängen des Denkens in der Steinzeit" – Andrea Gnam.

Es ist ein einzigartiges Archiv der Frühgeschichte und dezentral über die ganze Erde verteilt: Eingeritzte oder mit Farbe auf Felswänden aufgebrachte Bilder und Zeichen gehören ebenso dazu wie Steinansammlungen, die gezielt einen Ort umschließen.

Silvia Ferrara führt uns mit ihrem Buch "Der Sprung. Eine Reise zu den Anfängen des Denkens in der Steinzeit" munter erzählend in diese Welt ein. Der sprunghafte Stil des Buches ist sehr gewöhnungsbedürftig, vor allem wenn sich die Autorin in Begeisterung redet, etwa wenn sie über die so überwältigende wie berührende Bilderwelt der Chauvet-Höhle in Frankreich spricht: "Ich komme zur Sache. Die Höhle raubt einem den Atem wie ein Schlag in die Magengrube. Machen sie sich darauf gefasst."

Gefasst machen muss man sich aber auch auf eine Selbstdarstellung, die eher an eine Influencerin denken lässt, denn an eine ernsthafte Wissenschaftlerin, die ein Forschungsprojekt leitet: "Jetzt präsentiere ich Ihnen die Anfänge des Kinos, des Erzählens, aller Mythen auf der Welt. Und die aller Zeichen." Ob sie das einlösen kann? Um es vorwegzunehmen, gerade bei dieser Materie ist das selbst dann, wenn man auf einem hohen Abstraktionsgrad der Zeichentheorie und der neuronalen Forschung argumentieren würde, eigentlich nicht möglich. Die Einsicht, dass Zeichen, seien es Punkte, Rauten oder das gesprochene Wort arbiträr sind, stammt aus der frühen Zeichentheorie: Es gibt keine Notwendigkeit, dass ein Zeichen für eine bestimmte Sache genau so und nicht anders gestaltet sein muss, und von daher ist es eine Sache der Übereinkunft und der Praxis, über welchen Zeitraum und von wem es verstanden wird.

Am wenigsten verärgert ist man als Leserin, wenn man sich dafür entscheidet, Ferraras Buch als eine Art von Social Media kompatiblem Reisebericht zu den Höhlen der Welt zu lesen und damit in Kauf zu nehmen, dass wir auch über das Befinden der Autorin im rumpelnden Bus unterrichtet werden oder uns anhören müssen, dass Herodot ein "Storyteller" gewesen sei und keine verlässliche Quelle. Mit etwas Geduld erhalten wir dann aber doch auch Gedanken und Hinweise, die den neueren Stand der Forschung reflektieren. Frühe geritzte oder gemalte Notationen auf Felswänden – die Autorin verwahrt sich gegen den Begriff der Felskunst, da er das memorierende Moment vernachlässige – und gezielt aufgebrachte Hand- und Fußabdrücke sind Kulturleistungen, die sich rund um den Erdkreis in ihrer Struktur oft erstaunlich ähneln: "Hüten wir uns beim Betrachten dieser Formen vor dem groben Fehler, sie für etwas Schlichtes zu halten.

Der Glaube, geometrische Formen seien elementarer, primitiver oder einfacher, täuscht. Gerade wegen ihrer Geometrie sind diese Petroglyphen komplexe kulturelle Objekte", kommentiert sie die Bedeutung von in Stein geritzten geometrischen Linien und Strichen. Die Paläanthropologin Genevieve von Petzinger, schreibt Ferrara, habe eine Datenbank für geometrische Zeichen aus 150 Höhlen angelegt und so 32 weltweit wiederkehrende Zeichen identifiziert. Könnte das damit zu tun haben, dass das Gehirn, in den Höhlen unter Sauerstoffmangel leidend, Kreise, Punkte und Gitter auf die Netzhaut projiziert? Oder handelt es sich vielmehr um eine Abstraktionsleistung?

Ferrara verweist, und das ist vielleicht der interessanteste, wenn auch nur ein paar Seiten umfassende Part des Buches, auf neuronale Forschungen zur Wahrnehmung. Grundlegend für das Identifizieren von Objekten auf dem Weg vom Netzhautreiz zum Erkennen von immer komplexer, feiner und detaillierter werdenden Aufgaben, wie zum Beispiel das Zuordnen eines Gesichts, ist das Erkennen von Umrissen. Zeichen auf Felswänden wie Striche, Kurven und Gitter könnten von daher anzeigen, dass alle Voraussetzungen für das anatomisch moderne Gehirn schon viel früher als gerne angenommen vorhanden sind: Prähistorische Menschen hatten demzufolge bereits Anlagen zur Verarbeitung von visuellen Reizen, die auch im Gehirn moderner Menschen so ankommen und weitergeleitet werden. Wiederkehrende Zeichen und Ornamente auf Felswänden zeugen daher von komplexen kognitiven Abläufen.

Stand
Autor/in
Andrea Gnam