Buchkritik

Karl-Heinz Kohl – Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne

Stand
Autor/in
Clemens Klünemann
Autor Clemens Klünemann

Oft steht der forschende Blick des Ethnologen unter dem Verdacht, sich aus einer Position der europäischen oder westlichen Überheblichkeit mit der Alterität indigener Kulturen zu beschäftigen. Der emeritierte Ethnologie-Professor Karl-Heinz Kohl zeigt, dass dieser Verdacht unbegründet ist: Seine Studien über indigene Kulturen aus dem Südwesten der USA, aus Mali, aus dem Amazonasgebiet, aus der zentralaustralischen Wüste oder aus der Südsee zeigen, wie die Beschäftigung mit fremden Kulturen zu Anverwandlung statt zur Aneignung führen kann.

Stellt es nicht ein Hindernis für das wechselseitige Verstehen dar, wenn es nur noch den Angehörigen der eigenen Kultur erlaubt sein soll, über deren Geschichte und gegenwärtige Lebensformen zu forschen?

Was wie eine vorsichtige Anfrage an diejenigen klingt, die jegliche Beschäftigung mit dem Fremden unter den Verdacht ‚kultureller Aneignung‘ stellen, ist ein Plädoyer für die Anverwandlung des ursprünglich einmal Fremden und damit für eine Ethnologie, die sich mit Interesse und ohne Überheblichkeit den außereuropäischen Kulturen widmet.

In seinem Buch ‚Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne‘ plädiert der Ethnologe Karl-Heinz Kohl dafür, die Moderne nicht lediglich als ein europäisches Phänomen zu betrachten, das indigene Kulturen darauf reduziert, einer früheren Entwicklungsstufe anzugehören.

Wirklich auf Augenhöhe könne man indes – um nur drei indigene Völker zu nennen – den brasilianischen Tupinambá, den Bewohner/-innen von Palau und Tahiti oder den Hopi im Südwesten der USA begegnen, wenn man sie nicht darauf reduziert, die europäische Tradition zu spiegeln. Stattdessen geht es um ihre jeweils eigenen Weltsichten. 

Émile Durkheim und Sigmund Freud entdecken das Eigene im Fremden 

Und in diesen Weltsichten ist einiges zu entdecken, was geeignet ist, die Vertreter europäischer Kultur bescheidener werden zu lassen. So zeigt Kohl, inwiefern der Stamm der Irokesen das politische System der USA, dieser am längsten bestehenden Demokratie der Welt, beeinflusst hat:

Benjamin Franklin hatte sogar vorgeschlagen, den zunächst als Einkammersystem konzipierten amerikanischen Kongress in Analogie zum Großen Rat der Irokesen als Grand Council zu bezeichnen.

Und was die Gleichstellung der Frau angeht: die war bei den Irokesen seit jeher vorhanden, während in Europa so viele Jahrhunderte dafür gekämpft worden war. Aber nicht nur die Kultur nordamerikanischer Indigener lässt die Wurzeln der Moderne in einem neuen Licht erscheinen:

Die Kritik an dem das europäische Denken nicht erst seit Darwin dominierenden Evolutionismus entstand durch die Erforschung der elementaren Formen der Religion, zu der Émile Durkheim durch die Beschäftigung mit den australischen Aranda motiviert wurde – ein Jahr später veröffentlichte Sigmund Freud seine Studien über Totem und Tabu, um „auf einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker“ aufmerksam zu machen. 

Die Öffnung des europäischen Blicks auf eine Welt-Kultur 

Es geht in der Tat um Übereinstimmungen und nicht um Überlegenheiten – dass der Begriff des Wilden dem Freud’schen Zeitkolorit geschuldet ist, versteht sich von selbst. Wie aber verhält es sich mit dem Begriff ‚Stamm‘ – ist der nicht genauso despektierlich? Unmissverständlich macht der Autor deutlich, dass es sich keineswegs um eine Bezeichnung herablassender Europäer über andere Völker handelt:

Seine Verwendung gleich im ersten Satz der Weimarer Verfassung, die sich ‚das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen‘ im Jahr 1919 gab, zeigt, dass man es keineswegs allein auf die ‚Eingeborenenstämme‘ bezog.

Und waren es nicht die 12 Stämme Israels, deren Religion zu einem zentralen Bestandteil der europäischen Kulturgeschichte geworden ist? Karl-Heinz Kohl lässt keinen Zweifel daran, dass der Beitrag der von ihm vorgestellten neun Stämme auf den verschiedenen Kontinenten dieses Planeten zu einer Welt-Kultur ebenso hoch zu schätzen ist. 

Aktuelle Debatten und die Ignoranz gegenüber anderen Erinnerungsspuren 

Aber noch etwas wird an diesem Buch über die unbekannteren Wurzeln der Moderne deutlich – nämlich welche Wege und Irrwege manche aufgeregte Debatte unserer Tage geht: Neben der bereits angesprochenen Frage der kulturellen Aneignung geht es auch um die postkoloniale Wahrnehmung kolonialer Vergangenheit:

Die lange ignorierten deutschen Verbrechen an Nama und Herero bestimmen unseren Blick auf das frühere Deutsch-Südwest-Afrika und heutige Namibia; außereuropäische Kulturen nicht auf den Opferstatus zu reduzieren, vielmehr ihren Beitrag zur heutigen Gestalt einer Welt-Kultur zu zeigen, ist das Vorhaben dieses Buches – das ist gelungen! 

Mehr Literatur zu indigenen Völkern und Kolinialismus

Buchkritik Pekka Hämäläinen – Der indigene Kontinent. Eine andere Geschichte Amerikas

Die indianischen Völker Nordamerikas erscheinen in den gängigen Darstellungen meist nur in einer Opferrolle. Doch inzwischen haben Historiker damit begonnen, ihre wahre Geschichte zu erforschen.

SWR2 lesenswert Kritik SWR2

Kurzkritik Zeinab Badawi – Eine afrikanische Geschichte Afrikas

„Wir alle stammen aus Afrika, und daher ist dies ein Buch für uns alle.“ – Mit diesem Satz beginnt „Eine afrikanische Geschichte Afrikas“, ein Buch von Zeinab Badawi.
Eine Kurzkritik von Katharina Borchardt

lesenswert Magazin SWR Kultur