Buchkritik

John Wray – Madrigal

Stand
Autor/in
Michael Hillebrecht

Von toxischer Männlichkeit erzählt der US-Amerikaner John Wray in diesen acht Geschichten – rasant und ohne Furcht vor heiklen Themen. Der Autor konfrontiert uns mit extremen Charakteren, die psychologisch überzeugend gezeichnet sind.

Es ist der erste Erzählband, den Wray auf Deutsch geschrieben hat. Wrays Vater ist Amerikaner, seine Mutter ist Österreicherin. „Das heißt, ich bin in den Vereinigten Staaten aufgewachsen, aber bei mir zu Hause hat man deutsch gesprochen, dadurch bin ich wirklich zweisprachig aufgewachsen.“
Und so spricht John Wray im Interview mit Michael Hillebrecht Deutsch mit leichtem amerikanisch-österreichischem Akzent.

Als die Schriftstellerin Maddy die Psychopharmaka absetzt, scheint sich ihre Schreibblockade zu lösen

Maddy, die Hauptfigur von „Madrigal“, ist Schriftstellerin, leidet aber schon lange an einer Schreibblockade. Seit Jahren nimmt sie Psychopharmaka, um ihre seelischen Probleme in den Griff zu bekommen. Jetzt hat sie abrupt die Medikamente abgesetzt, und vor ihrem inneren Auge schält sich langsam die Idee für einen neuen Roman heraus.

„Der Roman, den sie schreiben würde, wenn sie noch schreiben könnte, würde in einem Universum spielen, das dem unseren so ähnlich wäre, dass dem Leser erst in der Mitte des Buches langsam dämmern würde, dass etwas nicht stimmt. Der Unterschied macht sich bemerkbar auf subtilste Art und Weise, zunächst im Dialog, durch kleine Fehler, als ob die Personen Englisch nur als Zweitsprache sprechen würden: Das Moor vor dem Haus der Protagonistin wird «die Feuchtigkeit» genannt, ihr Auto scheint ohne Benzin oder Strom zu laufen, sie sagt  ihrem Mann, er solle sich beeilen, weil sie «nicht aus Zeit bestehe».“

„Madrigal“ hat die Logik eines Alptraums, sagt John Wray

Angespornt durch ausgiebige Recherchen im Internet entwirft Maddy den Plan eines Romans mit sehr assoziativen Sprüngen durch Zeit und Raum. Auf den wenigen Seiten der Erzählung entsteht wie im Schnelldurchlauf das Panorama eines wahnwitzig anmutenden Romans.

John Wray lässt uns so intensiv an Maddys sich überschlagenden Gedanken teilhaben, dass man beim Lesen fast das Gefühl bekommt, in immer rasanterem Tempo von einem schwarzen Loch angezogen und am Ende, um unendlich viele Erfahrungen reicher, wieder ausgespuckt zu werden.

„Für mich hat „Madrigal“ schon irgendwie die Logik eines Alptraums und auch deswegen fängt die Erzählung an, sich zu beschleunigen und wird eigentlich immer hektischer und schneller und wilder gegen Ende“, sagt John Wray im Gespräch.

Ein ganzes Leben auf 15 Seiten

In der Erzählung „Sieh das Licht“ gelingt es Wray sogar, ein ganzes Leben auf 15 Seiten Revue passieren zu lassen. „Sieh das Licht“ ist, wie schon der Titel andeutet, fast vollständig in der Befehlsform geschrieben. Die Erzählung beginnt mit den ersten Wahrnehmungen eines Babys:

„Sieh, wie die Tage und Nächte vorbeiflimmern. Beobachte das gelbe Licht, während es kreist. Hasse es und begehre es. Mach den Mund auf und schlucke es. Empfinde es wie ein Prickeln auf deinem Gesicht und deiner Zunge.“

Vielleicht erlebt ein Amokläufer seine Gedanken als Befehl

Aus dem Baby wird ein Junge, der in der Schule von seinen Mitschülern drangsaliert und verprügelt wird. Er entwickelt sich zum Außenseiter und hält sich als kleiner Drogendealer über Wasser. Schließlich läuft dieses Leben auf eine finale Gewalttat zu:

John Wray: „Ich würde fast sagen, dass die Entscheidung, über einen Amokläufer zu schreiben, direkt  aus der Entscheidung, in der Imperativ-Form zu schreiben, entstanden ist, dass vielleicht sogar jemand, der sich dazu gezwungen fühlt, so eine schreckliche Tat zu begehen, seine Gedanken wirklich als Befehl erleben könnte.“

Außer in der Erzählung „Madrigal“ stehen immer männliche Figuren im Zentrum

John Wray spannt dabei einen überzeugenden psychologischen Bogen: Die Erzählung beginnt mit den Wahrnehmungen eines neugeborenen Kindes, für das noch keine Trennung von Welt und Ich existiert. Sie endet mit einem erwachsenen Gewalttäter, dessen Ego so wahnsinnig aufgebläht ist, dass er in seiner Allmachtsphantasie glaubt, sich die Welt vollständig unterwerfen und einverleiben zu können.

Fast alle der acht Erzählungen sind in den USA angesiedelt, und mit Ausnahme der Titelerzählung stehen immer männliche Figuren im Zentrum.

John Wray: „Irgendwann beim Schreiben ist mir aufgefallen, dass man diesen gesamten Erzählband als eine Art Menagerie der toxischen Männlichkeit betrachten könnte.“

Ein Text, der Abstand hält von einem unsympathischen Menschen, ist überhaupt nichts wert

John Wray schreckt dabei nicht vor heiklen Themen zurück. In der Erzählung „Im Bereich des Möglichen“ versetzt er sich in einen Mann hinein, der angesichts der achtjährigen Tochter seiner Partnerin mit seinen pädophilen Neigungen kämpft.

Dazu sagt John Wray: „Ein Text, der Abstand hält von einem unsympathischen oder gar grausamen Menschen, ist überhaupt nichts wert. Man muss etwas riskieren als Autor, man muss auch in sich selbst hineinschauen und die Eigenschaften für sich entdecken, die man vielleicht gemeinsam hat mit so einem Menschen. Sonst wird es einem nie gelingen, etwas zu schreiben, das den Leser überzeugen könnte.“

Für John Wray spielen emotionale Extreme eine wichtige Rolle

Diese Rolle des Schriftstellers und Künstlers thematisiert Wray neben der Titelerzählung „Madrigal“ in zwei weiteren Erzählungen des Bandes. Einmal geht es um einen Familienvater, der versucht einen Roman zu vollenden, obwohl ihm Familie und Job kaum Zeit dafür lassen, einmal um Michelangelo, der vom Papst den Auftrag für die Fresken der Sixtinischen Kapelle erhält. Für die Protagonisten wie für John Wray selbst spielen emotionale Extreme eine wichtige Rolle:

„Ich kenne kaum einen Künstler oder Schriftsteller, der nicht an diversen Neurosen leidet. Man fühlt sich manchmal allmächtig, und dann in der nächsten Sekunde fühlt man sich vollkommen wertlos.“

Ein gelungener erster Erzählungsband auf Deutsch

Trotz seiner Selbstzweifel hat John Wray mit „Madrigal“ einen gelungenen ersten Erzählungsband auf Deutsch vorgelegt. Er nimmt uns mit auf erzählerische Achterbahnfahrten, konfrontiert uns mit extremen Charakteren und schafft überzeugende, psychologisch genau gezeichnete Figuren. Bleibt zum Schluss die Frage, ob er auch künftig auf Deutsch schreiben wird?

„Es ist halt irgendwie doch ein frischer Anfang. Ich habe keineswegs vor, aufzuhören auf Englisch zu schreiben. Das soll keine dramatische Geste sein. Aber eine zweite Option zu haben, immer eine Alternative zu haben beim Schreiben ist schon etwas sehr Schönes.“

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Michael Hillebrecht