Ein Vorfall in der Schule, ein Jahrzehnte zurückliegender Unfall und die Frage, ob Kinder wirklich unschuldig sind: Jessica Linds Roman „Kleine Monster“ ist eine raffiniert gebaute Untersuchung der Institution Familie.
Man darf sich Pia, Jakob und ihren kleinen Sohn Luca eigentlich als eine glückliche Familie vorstellen. Bis zu jenem Tag, an dem Lucas Grundschullehrerin die Eltern zu einer Unterredung in die Schule bittet. Etwas ist passiert. Ein Zwischenfall mit einer Mitschülerin, als Luca mit ihr allein im Klassenzimmer war. Mädchen, so sagt die Lehrerin, denken sich so etwas nicht aus.
Der Vorfall, dessen Details Jessica Lind ganz bewusst im Vagen lässt, hat Folgen. Zunächst einmal werden Jakob und Pia stillschweigend aus der Eltern-WhatsApp-Gruppe der Klasse entfernt. Dort, so wissen sie, wird nun über ihren Sohn geredet, ohne dass sie ihn verteidigen können.
Was hat der eigene Sohn getan?
Vor allem aber in Pia, der Ich-Erzählerin von „Kleine Monster“, nisten sich Zweifel gegenüber ihrem Sohn ein. Verschweigt Luca den Eltern etwas? Sind Kinder so unschuldig, wie die Eltern stets glauben? Oder stecken in ihnen tatsächlich, wie der Romantitel suggeriert, manipulative „Kleine Monster“? Jessica Lind beschreibt den Wandel, der in ihrer Ich-Erzählerin schleichend vonstatten geht, folgendermaßen:
Jessica Lind erzählt: „Zu Beginn ist Pia eine ganz normale Mutter, die ihren Sohn Luca über alles liebt, doch durch diesen Vorfall in der Schule beginnt sie ihn mit anderen Augen zu sehen und fragt sich, ob er irgend etwas vor ihr verbirgt. Gleichzeitig erinnert sie sein Verhalten an ihre eigene Kindheit und das Aufwachsen mit ihren Schwestern. Sie sieht vor allem ihre Adoptivschwester Romi in ihm, und um Romi war immer ein Geheimnis. Ihre Schwester hatte sie irgendwie nie ganz verstanden, das ist aber keine Frage der Liebe an sich. Pia fühlt sich für Luca verantwortlich und deswegen sieht sie es als ihre Aufgabe, hinter sein Geheimnis zu kommen.“
„Kleine Monster“ ist ein raffiniert gebauter, doppelbödiger Roman. Denkt man zunächst, dass Jessica Lind wieder einmal den Versuch unternehmen könnte, das Zeitgeistthema „Regretting Motherhood“ einem Roman überzustülpen, zeigt sich bald, dass es Lind um etwas Anderes geht.
Der zweite Handlungsstrang des Romans erzählt von Pias Aufwachsen und von ihrem Verhältnis zu den eigenen Eltern. Pia war die älteste von drei Schwestern. Romi, die mittlere Schwester, kam als Adoptivkind in die Familie und versuchte seit der frühen Kindheit ihren eigenen Weg zu gehen. Linda, die jüngste Schwester, der Pias Sohn Luca verblüffend ähnlich sieht, ist im Alter von vier Jahren in einem See in der Nähe ihres Elternhauses ertrunken. Pia lag zu diesem Zeitpunkt krank im Bett; Romi hat, so wird es erzählt, noch versucht, die Schwester zu retten.
Tragischer Unfall ist das Herz des Romans
Dieser tragische Unfall ist das heimliche, traumatische Zentrum des Romans. Er bestimmt Pias Blick auf Erziehung, Partnerschaft und ein Familiengefüge, das nach dem Tod der Schwester zu implodieren drohte. Die Eltern wurden hart, peinigten die Kinder, vor allem Romi, so lange mit Strafen, ellenlangen Verbotslisten und Züchtigungen, bis diese sich lossagte und das Haus verließ. Jessica Lind hat an der Wiener Filmakademie Drehbuch studiert.
Und auch wenn sie hin und wieder etwas überexplizit wird und die Handlungsmotive ihrer Figuren eine Spur zu deutlich kommentiert, hat Lind andererseits ein gutes Gespür für den Aufbau von Szenen und auch für Dialoge. Sei es in Pias Kommunikation mit ihrer Mutter, sei es in der Auslotung ihrer Beziehung zu Jakob oder auch im Umgang mit ihrem Sohn Luca – Lind inszeniert die Institution Familie als eine permanente Konkurrenzsituation. Um ein Buhlen um Zuwendung, Aufmerksamkeit, Zeit und Status. Zugleich aber bewertet Pia ihre Erinnerung an ihre Kindheit noch einmal neu, wie Jessica Lind erklärt:
„Ich glaube, Pia ist am Anfang gar nicht bewusst, wie sehr sie das Trauma ihrer Kindheit begleitet und wie sehr es auch ihr Verhalten prägt. Dieser Prozess, dass sie sich mit der Vergangenheit beschäftigt, sich ihre eigene Kindheit noch einmal anschaut und beginnt, Sachen neu zu bewerten – das passiert erst im Laufe des Romans und ist auch das Zentrum der Geschichte. Ich glaube, dass wir in unserem Dreißigern, egal ob wir Kinder haben oder nicht, plötzlich mit anderen Augen auf unsere Kindheit blicken und vielleicht draufkommen, dass manches, was wir sicher geglaubt haben, doch zumindest mit einem anderen Beigeschmack, mit einer anderen Note auch noch betrachtet werden kann.“
Ein Text voller Falltüren
Auch diese Einsicht hebt „Kleine Monster“ über eine rein privatistische Geschichte heraus ins Allgemeingültige. Der Roman wirft auch die Frage auf, inwieweit Generationen untereinander fair und gerecht übereinander urteilen. Das Geschehen bekommen wir ausschließlich durch den Filter von Pias Weltsicht präsentiert. Eine Weltsicht, in der durchaus auch finstere, zerstörerische Tendenzen Platz haben. Vor dem Spiegel übt Pia das Lächeln, denn wenn sie lächele, so sagt sie es, sehe man ihr ihre Gedanken nicht an. Auf engem Raum von rund 250 Seiten ist „Kleine Monster“ ein an der Oberfläche eher distanziert-kühler Text, in dem sich immer wieder Falltüren öffnen. Das weiß auch die Autorin:
„Generell ging es mir bei „Kleine Monster“ darum, dass große Gefühle in Familien eben sehr nah beieinander liegen können. Liebe und Hass, Nähe und Distanz sind nur zwei Beispiele, und sich das anzuschauen in diesem Schmelztiegel Familie, wo das Ganze auch hochkochen kann, das interessiert mich sehr und deswegen mache ich das auch gerne zum Schauplatz meiner Geschichten.“
Einer Geschichte, die im Fall von „Kleine Monster“ auf hintergründige Weise zu überzeugen vermag.
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