- Linn Strømsborg: „Nie, nie, nie“
- Stefanie de Velasco: „Das Gras auf unserer Seite“
- Valerie Fritsch: „Zitronen“
Thomas Mann: Der Vater des deutschen Familienromans?
Thomas Manns „Buddenbrooks. Verfall einer Familie“ ist einer der bekanntesten Romane des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum der Handlung steht die Kaufmannsfamilie Buddenbrook, Hauptschauplatz der Handlung ist die Hansestadt Lübeck, genauer: das Haus in der Mengstraße 4. Der Vier-Generationen-Roman erschien am 26. Februar 1901 beim Fischer Verlag und verhalf Thomas Mann schließlich 1929 zum Nobelpreis.
Familienromane und Generationsgeschichten kommen in der deutschsprachigen Rezeption noch heute kaum ohne obligatorischen Thomas-Mann-Vergleich aus, so auch Philipp Oehmkes „Schönwald“. Kein Generationenroman ohne Verweis auf die „Buddenbrooks“.
Auch in den USA ist das Genre höchst populär, vertreten durch große Namen wie Jonathan Franzen, Philip Roth oder Richard Ford. Der Clou der Autoren: Gesellschaftliche Entwicklungen spiegeln sich im Mikrokosmos „Familie“ wider. Eine literarische Form also, die sich entgegen Thomas Manns Erwartung bis in die Moderne gut gehalten hat.
Kritische Auseinandersetzungen mit dem Konzept Familie
Mit Blick auf die aktuellen Neuerscheinungen zeigt sich gerade allerdings ein anderer Trend in der Gegenwartsliteratur: Besonders Autorinnen scheinen sich mit dem Thema „Familie“ kritisch auseinanderzusetzen.
Im Sachbuch „Mythos Mutterinstinkt“ entzaubern Annika Rösler und Evelyn Höllrigl Tschaikner mit Erkenntnissen der modernen Hirnforschung das Rollenbild der Super-Mutti. Journalistin Shila Behjat liefert mit „Söhne großziehen als Feministin“ einen zeitgemäßen persönlichen Essay über die politische Dimension der Mutterrolle.
Mutter, Vater, Kind – das sind die drei Hauptzutaten für die klassische Familie, die wie bei den „Buddenbrooks“ Generation um Generation heranwächst. Doch die Gesellschaft wandelt sich: Alternative Familienkonzepte sind längst Teil eines vielfältigeren Verständnisses von Familie.
Familien sind queer oder kinderlos, verzichten bewusst auf Nachwuchs oder Frauen sprechen offen darüber, dass sie ihre Mutterschaft bereuen. Diese Entwicklungen spiegeln sich auch in der Literatur wider.
Kinder kriegen? Nicht mit mir!
„Ich will keine Kinder, nicht mit ihm, mit niemandem. Schon gar nicht mit mir selbst.“ Das sagt die Erzählerin in Linn Strømsborgs Roman „Nie, nie, nie“. Sie ist fünfunddreißig und schon lange sicher: Kinder kriegen? Nicht mit mir!
Es ist eine bewusste Entscheidung, schließlich ist die namenlose Ich-Erzählerin ständig gezwungen, sich zum Thema Muttersein oder Nicht-Muttersein zu positionieren. Ob im Gespräch mit den Kolleginnen, dem Partner, den Eltern und auf Partys. Oder als ihre beste Freundin Anniken Nachwuchs bekommt – den Kindern kann sie nicht entfliehen.
Hörbuch: „Nie Nie Nie“ von Linn Strømsborg
Strømsborgs „Nie, nie, nie“ ist 2021 in der Übersetzung von Stefan Pluschkat bei DuMont erschienen. Das Hörbuch, gelesen von Anne Müller, ist jetzt in der ARD Audiothek verfügbar.
Lieber Hunde statt Kinder
Dieser Roman beginnt mit der Freude über eine gelungene Abtreibung: Stefanie de Velascos „Das Gras auf unserer Seite“ erzählt von drei Frauen – Kessie, Grit und Charly – die keinen Kinderwunsch verspüren. Das heißt allerdings nicht, dass Familie gänzlich unbedeutend für sie wäre. Alles eine Frage der Definition. Schließlich sind sie auch mit ihren Hunden glücklich.
Autorin Stefanie de Velasco gelang 2013 mit ihrem ersten Roman „Tigermilch“ der Durchbruch. Das Buch wurde 2017 von Ute Wieland verfilmt. Die Schriftstellerin ist selbst kinderlos. Weshalb und wie das das Schreiben von „Das Gras auf unserer Seite“ beeinflusste, erzählt sie Denis Scheck in einem persönlichen Gespräch bei „lesenswert“.
Gewalt in poetischer Sprache
Dass Familie nicht nur harmonisch, ja sogar lebensgefährlich, sein kann, das erzählt Valerie Fritsch in ihrem neuen Roman „Zitronen“.
August Drach wächst in einem schiefen Häuschen am Rande eines Dorfes auf. Der Vater, August Senior, ist gewalttätig, nur zu den zwei Hunden ist er gut. Lilly Drach, die Mutter, spendet Trost. Als der Vater verschwindet, ändert sich die Familiendynamik. August erkrankt. Es ist Lilly Drach, die ihren Sohn mit Medikamenten absichtsvoll vergiftet.
Über „Zitronen“ diskutiert die Jury der SWR Bestenliste im April
Fritsch schreibt in poetischer Sprache von einer Mutter mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Lilly Drach kann ihren Sohn nur lieben, wenn sie ihn vergiftet und verletzt, sie schiebt den geschwächten Sohn im Rollstuhl durch den Ort. Paradoxerweise ist es diese Gewalt, die die Familie zusammenhält. Erst im Erwachsenenalter gelingt es August, das Rätsel seiner Kindheit zu lösen. Das führt, so viel sei verraten, zu noch mehr Gewalt.