Kindeswohl als Mittel der Schreckensherrschaft
Ist ein Kind zu erziehen ein Recht oder ein Privileg, das jederzeit entzogen werden kann? Und falls Letzteres, wer entscheidet dann darüber? In dem Roman „Institut für gute Mütter“ der Amerikanerin Jessamine Chan ist es die „Kinderschutzbehörde“.
Das 400-Seiten-Werk ist eine Überwachungsdystopie à la „1984“. Nur dass sich der Staat hier mehr für die Erziehungspraktiken seiner Bürger interessiert als für deren politische Ansichten. Aber lässt sich das überhaupt trennen?
Gleich in der ersten Phase ihres „Rehabilitierungsprogramms“ werden in der Wohnung von Chans Heldin Frida Liu überall Kameras installiert. Schließlich hat sich die alleinerziehende Mutter in den Augen des Staates als eine Gefahr für ihre 18 Monate alte Tochter Harriet entpuppt. Sich jetzt auf ihre Bürgerrechte zu berufen sei keine gute Idee, erklärt ihre Anwältin; angesichts der politischen Stimmung im Land sei die Gefahr einfach zu groß, das Sorgerecht endgültig zu verlieren.
Fridas Albtraum beginnt, als sie einmal vor lauter Stress und Überforderung die Zeit vergisst. Nur ganz kurz will die 39-Jährige in ihr Unibüro, um Unterlagen fürs Homeoffice zu holen. Aus zwanzig Minuten werden zwei Stunden, währenddessen schreit zuhause ihr alleingelassenes Kleinkind so lange, bis ein Nachbar den Notruf wählt.
Das hätte nicht passieren dürfen, natürlich, aber was immer die von Schuldgefühlen überwältigte Frida von nun an sagt oder tut, wird gegen sie ausgelegt: vom Fleck auf der Bluse bis zum Umstand, dass sie, die Tochter chinesischer Migranten, ihr Kind nicht zweisprachig aufwachsen lässt. Warum wolle sie Harriet ihr kulturelles Erbe verweigern?
Ihre Tochter sei womöglich lebenslang traumatisiert, sagt die Richterin, aber „wir kriegen Sie schon wieder hin, Miss Liu!“ Wolle sie ihr Sorgerecht behalten, müsse Frida nur ein Jahr lang in ein Institut, um all die Instinkte und Kompetenzen zu erwerben, die eine gute Mutter auszeichnen sollen. In der Zwischenzeit darf sich der Papa um Harriet kümmern. Der ist längst mit einer zehn Jahre jüngeren Pilatestrainerin zusammen und kann gar nicht verstehen, dass Frida ihn nicht um Hilfe gebeten hat.
Umerziehung für die „schlechte Mutter“
Jessamine Chans Debütroman – in einer eindrucksvoll kühlen Sprache erzählt – ist eine bitterböse Satire auf die immer toxischeren Gesellschaftsverhältnisse in den USA. Dort treibt der Kinderschutz immer absurdere Blüten und wurde Kindererziehung längst zum Kampfplatz zwischen progressiven und regressiven Kräften.
In Chans Roman wird das Institut, eine bootcampartige Einrichtung, von empathielosen Trainerinnen geleitet, die die internierten Frauen, darunter auffallend viele Women of Color, zu perfekten Müttern formen wollen. Gehirnwäsche inklusive: „Ich bin eine schlechte Mutter, aber ich lerne, eine gute zu sein“, lautet das ständig zu wiederholende Mantra der dauerüberwachten Frauen. Im Spiel mit kindlichen Androiden müssen sie lernen, wie man durch präzise „Acht-Sekunden-Umarmungen“ Geborgenheit spendet oder beim Kuscheln Grenzen achtet.
Frida soll die ihr zugewiesene Androidentochter auf die Wange küssen, aber nicht auf den Mund, das ist nämlich eine schlechte „europäische Angewohnheit“. „Gute“ Mütter, lernen die Frauen, sind immer bereit, sich für ihr Kind bedingungslos aufzuopfern; eigene Bedürfnisse kennen sie gar nicht. Bei schlechten Vätern ist man erheblich nachsichtiger, wie sich herausstellt.
Das Roboter-Kind wird zur neuen Bezugsperson
Wenig überraschend wird im Lauf der Monate die Beziehung zu Fridas Tochter Harriet immer schwieriger, zumal Chans Protagonistin mehrmals die wöchentliche Telefonerlaubnis entzogen wird. Umso mehr berührt es, als sich Frida und ihre Androidentochter immer näherkommen.
In Chans Roman lassen sich viele Einflüsse entdecken: neben Margaret Atwoods „The Handmaid's Tale“ oder der Frauengefängnisserie „Orange is the new black“ nicht zuletzt Kazuo Ishiguros Robotermärchen „Klara und die Sonne“. Bei Chan will der kleine Roboter namens Emmanuelle Frida sogar bei ihrer Abschlussprüfung helfen. Dass die Androidenkinder bald menschlicher als die Trainerinnen wirken und überhaupt ein unheimliches Eigenleben entwickeln, gehört zu den vielen Stärken von Jessamine Chans Roman.