Buchkritik

Elif Shafak – Am Himmel die Flüsse

Stand
Autor/in
Julia Schröder

Ein Brückenschlag über Zeiten und Kontinente: Elif Shafaks Roman „Am Himmel die Flüsse“ bringt Ost und West zusammen, den Tigris mit der Themse, die Verfolgung der Jesiden mit der Entzifferung der assyrischen Keilschrift. Was einen Forscher des 19. Jahrhunderts, ein jesidisches Mädchen und eine Hydrologin verbinden mag, bleibt spannend bis zum Schluss.

Alles beginnt mit einem Regentropfen. Im siebten Jahrhundert vor Christus fällt er in Ninive, der blühenden Metropole Mesopotamiens, auf den Kopf des Herrschers. Der Tropfen wird Zeuge, wie der assyrische König Assurbanipal, ebenso belesen wie grausam, vor der Tür seiner sagenhaften Bibliothek seinen alten Lehrer als Verräter verbrennen lässt, bei lebendigem Leib. Und mit ihm seine eigenen Kindheitserinnerungen. Der Tropfen bleibt im Haar des Königs verborgen, bis er verdunstet.

Doch er wird nicht verschwinden. Über kurz oder lang wird die durchsichtige kleine Wasserperle wieder zum Himmel aufsteigen und dort auf den rechten Augenblick zu warten, um erneut auf die Erde zu fallen ... und wieder und wieder.
Das Wasser erinnert sich.
Nur die Menschen vergessen.

Derselbe Tropfen landet viele Jahrhunderte danach in London als Schneeflocke im Mund eines Neugeborenen. Die kleine Wasserperle wird im Irak die Lippen einer verdurstenden Jesidin netzen und später als Träne aus dem Auge einer jungen Wasserwissenschaftlerin rinnen.

Drei Lebensgeschichten – wie die drei Atome des H2O-Moleküls

Drei Hauptpersonen verbindet Elif Shafak in ihrem neuen Roman „Am Himmel die Flüsse“ mit dem einen Wassertropfen. Drei Handlungsstränge bewegen sich über 600 Seiten aufeinander zu, vom Tigris an die Themse. An deren verdrecktem Ufer kommt in einer kalten Nacht des Jahres 1840 Arthur Smyth zur Welt, der „König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere“, wie er bald genannt wird.

Inspiriert von einem historischen Vorbild erzählt der Roman von dem hochbegabten Jungen aus ärmlichsten Verhältnissen, dem es nach einer David-Copperfield-haften Jugend als Autodidakt gelingt, die assyrische Keilschrift zu entziffern. Bei der Arbeit an den Tontafeln aus der Bibliothek des Assurbanipal im British Museum entdeckt Arthur, die ersten Fragmente des lang verschollenen Gilgamesch-Epos:

Der die Tiefe sah ...
Einen weiten Weg legte er zurück, müde und erschöpft.
All seine Mühsal ist niedergeschrieben
auf einem Gedenkstein ...

Fasziniert von der Dichtung, deren Sintflut-Erzählung viel älter ist als die des Alten Testaments, setzt Arthur alles daran, zu den Ausgrabungen in Ninive zu reisen. Während seine Entdeckungen zu Hause in England als Sensation gefeiert werden, taucht er tief ein in die Rätsel Assyriens und die Geheimnisse der Jesiden, die dort seit Jahrhunderten, vielleicht Jahrtausenden siedeln. Wo einst Bewässerungssysteme die Gärten Ninives speisten, findet Arthur um 1870 eine Wüste vor.

Kein Verständnis für deutsche Wannenbäder

Die Dürre hat in unseren Tagen weitere große Teile des Fruchtbaren Halbmonds erobert. In dieser Region verweilt das Buch mit der zweiten Hauptfigur, springt aber ins  21. Jahrhundert. Flussaufwärts des Tigris, in der Türkei nahe Hasankeyf, dem antiken Castrum Kefa, ist die Heimat von Narin.

2014 ist das jesidische Mädchen neun Jahre alt. Als Nachfahrin einer Familie von Heilerinnen und Seherinnen wächst Narin bei ihrer Großmutter auf. Sie bringt dem Mädchen den tradierten Sinn der Jesiden für die Natur nahe, die Ehrfurcht vor ihren Kräften, die Bedeutung des Wassers. So erzählt sie von der bestürzenden Erfahrung einer Nachbarin, die nach Deutschland gegangen ist:

Als sie erfuhr, dass die Leute dort ganze Wannen mit Wasser füllten und sich darin einseiften, machte sie das fassungslos und traurig. Sie konnte nicht glauben, dass man so töricht sein kann und sich in sauberes Wasser setzt, ohne sich zuvor gewaschen zu haben.

Die Jesiden werden in der muslimischen Welt seit Jahrhunderten als „Teufelsanbeter“ verunglimpft und mit Pogromen überzogen. Den Hass bekommt auch Narin zu spüren.

Am Berg Sindschar im Nordirak gerät sie in das genozidale Massaker des IS an tausenden jesidischer Frauen und Kinder, das die deutsch-jesidische Autorin Ronya Othmann kürzlich in ihrem Buch „Vierundsiebzig“ dokumentiert hat. Narin wird verschleppt, versklavt, vergewaltigt und nach Anatolien verkauft.

Die vergessenen Flüsse und das gefährdete Gedächtnis

Wie dieses Mädchen am Ende des Romans auf die dritte Hauptfigur trifft, die Londoner Hydrologin Zaleekhah Clarke, soll hier nicht verraten werden. Die Wissenschaftlerin mit irakischen Wurzeln hat ein zwiespältiges Verhältnis zum Wasser.

Als sie ein Kind war, sind ihre Eltern vor ihren Augen ertrunken, heute erforscht sie hingebungsvoll den Zustand der allzu oft verschmutzten, verdrängten, verbauten Flüsse und glaubt an so etwas wie das Gedächtnis des Wassers.

Ihrem Trauma zum Trotz zieht sie in ein Hausboot auf der Themse und lernt dank der Begegnung mit einer von der assyrischen Keilschrift begeisterten Tattoo-Künstlerin, sich endlich ihrer Trauer zu stellen.

Sie liegen mit ineinander verschränkten Fingern in dem Einzelbett unter Deck und lauschen dem Wasser, das an den Bootsrumpf schlägt.
,Ich höre vergessene Flüsse‘, sagt Zaleekhah.
,Ich höre dein Herz‘, sagt Nen.

Mit großer Freude am sinnlichen Detail schildert Elif Shafak London, den Moloch des 19. Jahrhunderts und bis heute die Stadt der Gegensätze zwischen Arm und Reich, ebenso das osmanische Konstantinopel, die unbekannte, oft verkannte Kultur der Jesiden und deren herzzerreißendes Geschick.

Die „vergessenen Flüsse“, die Zaleekhah hört, werden zum Bild des bedrohten Gedächtnisses, der Auslöschung alten Wissens und überlieferter Erfahrung. Sei es durch Staudammprojekte, die steinerne Zeugen der mesopotamischen Vergangenheit verschwinden lassen, sei es durch deren lange Zeit unhinterfragte Entführung in westliche Sammlungen, sei es durch die Erinnerungspolitik der assyrischen Könige, die weibliche Urgottheiten durch männliche Götter ersetzten.

Der spannend geschriebene Roman fesselt auch mit seiner aufwendig recherchierten Faktenfülle. Zwar knirscht die Konstruktion gegen Ende hin, Shafaks Stil ist zuweilen allzu blumig, zuweilen hölzern und ihr Erzählen nicht frei von Klischees.

Dennoch überwiegt beim Lesen die Lust, in diese detailreichen Welten einzutauchen, immer wieder Überraschendes über die Figuren und ihren Platz in der Geschichte zu erfahren, mit ihnen zu hoffen und zu leiden und das Wasser auf diesem Planeten mit anderen Augen zu sehen.

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